Freitag, 4. Februar 2022

Erste Schritte auf dem Weg zum Sozialstaat?

Kostenlose Behandlung in öffentlichen und sogar in privaten Krankenhäusern für alle? Das gibt es nicht einmal in den USA, und gar in Pakistan klingt eine solche Idee gänzlich nach Science Fiction. Doch genau das plant Islamabad: Die landesweite Einführung von Sehat Sahulat (zu dt. etwa „Gesundheit ermöglichen“). 

Alle Menschen, die Gesundheitsdienstleistungen nicht selber finanzieren können, sollen kostenlose vor- und nachgeburtliche Gesundheitsversorgung und weitere medizinische Leistungen unter anderem bei Unfällen und Notlagen, bei Diabetes, Krebs, Hepatitis B und C sowie bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen kostenlos erhalten.

Wie die Asia Times berichtet, geht das Programm auf eine Initiative von Premierminister Imran Khan zurück, der 2018 mit dem Versprechen Tabdeeli (Veränderung, Wandel) gewählt wurde. Schon bevor Khan in den 1990er-Jahren in die Politik ging, war der ehemalige Kricketspieler als Philanthrop bekannt, der Projekte im Gesundheitsbereich unterstützte.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Khan immer wieder China als Vorbild für Pakistan und den Globalen Süden hervorhebt. Vor allem die Art und Weise, wie Peking die extreme Armut besiegt hat, imponiert dem pakistanischen Premier offensichtlich. Hier zeigt sich exemplarisch, dass der positive Einfluss des chinesischen Entwicklungsmodells weit über direkte Auslandsinvestitionen im Rahmen der Neuen Seidenstraße hinausreicht.

Dass die Sympathie mit dem chinesischen Vorbild kein Lippenbekenntnis ist, beweist die Art und Weise, wie Sehat Sahulat in Pakistan eingeführt wurde. Begonnen wurde mit dem Aufbau des neuen Gesundheitssystems in der kleinsten Provinz Pakistans an der Grenze zu Afghanistan: Khyber Pakhtunkhwa. Auch in China werden bedeutende Neuerungen meist erst regional getestet und optimiert, bevor eine landesweite Einführung erfolgt.

In Khyber Pakhtunkhwa leben 35 der insgesamt 220 Millionen Pakistanis, die Region ist bergig und zum Teil schwer zugänglich – schwierige Voraussetzungen also, die die Erfahrungen aus dem Probelauf realistisch machen. Gestartet war das Programm in der Provinz bereits 2015 – zunächst versuchsweise mit 100.000 Familien aus vier Landkreisen. Parallel zur Einführung des Programms wurde und wird auch die physische Gesundheitsinfrastruktur wie etwa Gesundheitsstationen und Krankenhäuser ausgebaut.

Eine SMS an die Telefonnummer 8500

Jetzt ist das dicht besiedelte Punjab am Oberlauf des Indus an der Reihe. Im Dezember wurde eine entsprechende Vereinbarung ratifiziert und bis März soll das Programm bereits weitgehend umgesetzt sein. Der Zugang zu Sehat Sahulat ist voll computerisiert und verblüffend einfach: Die AntragstellerInnen schicken einfach eine SMS an die Telefonnummer 8500, in der sie lediglich ihre Personalausweisnummer mitteilen.

Das reicht schon für die Prüfung aus, ob die fragliche Familie an dem Programm teilnehmen kann. Datenschutz scheint in diesem Zusammenhang keine Rolle zu spielen – andererseits ist das Verfahren sehr unbürokratisch und niederschwellig.

Nach Angaben der zuständigen Behörde nehmen mittlerweile fast 15,5 Millionen Familien an dem Programm teil. Da die Größe der Haushalte in dem südasiatischen Land immer noch über sechs Personen liegt, erreicht das Projekt also mindestens 90 Millionen Menschen. Stolz teilt die Website des Programms mit, dass nur drei Prozent aller Nutzerinnen im Krankenhaus aufgefordert wurden, zusätzliche Barzahlungen zu leisten.

In einem Land wie Pakistan mit endemischer Korruption ist das ein Traumwert. Um Korruption zu verhindern, beinhaltet Sehat Sahulat denn auch eine Komponente, die Beschwerden ermöglicht.

Wie die pakistanische Zeitung Dawn schreibt, weigert sich die – von der Opposition regierte – Provinz Sindh bisher mitzumachen. In Karachi argumentiert man, dass das eigene System staatlicher Kliniken besser sei und Sehat Sahulat private Krankenhäuser begünstige.

Denn das Rückgrat von Sehat Sahulat bildet eine staatliche Versicherungsagentur, die staatliche Zuschüsse erhält. Imran Khan zeigt sich jedoch überzeugt, dass auch Sindh in das neue System einsteigen wird, sobald die Menschen dessen Vorteile in den Nachbarprovinzen zu sehen bekommen.

Hohe Kinder- und Müttersterblichkeit

Laut UNICEF sterben immer noch 65 von 1.000 Kindern bevor sie das fünfte Lebensjahr erreichen und die Müttersterblichkeit liegt bei 140 Frauen per 100.000 Lebendgeburten. (Zum Vergleich: Laut Weltbank lag die Sterblichkeit von Kindern unter fünf Jahren 2019 in Deutschland bei 3,8; die Müttersterblichkeit 2017 bei sieben.)

Unter den zehn häufigsten Todesursachen in Pakistan gibt es neben der hohen Kindersterblichkeit und Herz-Kreislauf-Erkrankungen einige weitere, die sich mit vergleichsweise geringem Aufwand bekämpfen lassen: Durchfallerkrankungen, Tuberkulose und Diabetes.

Gesundheit ist jedoch nicht das einzige Thema sozialer Entwicklung, dem die Regierung von Imran Khan verpflichtet ist. Ein weiteres, deutlich größeres Programm, zielt auf nicht weniger als auf die schrittweise Verwandlung Pakistans in eine Art Sozialstaat ab.

Es firmiert unter dem Namen Ehsaas (etwa: "Mitgefühl"). Diese Bezeichnung ist etwas unglücklich, weil es sich bei der Verwirklichung sozialer Menschenrechte um international vereinbarte Staatenpflichten handelt, die nicht "freiwillig" sind.

Obwohl Ehsaas landesweit operiert, ist es kein zentral geplantes und durchgeführtes Vorhaben. Stattdessen hat sich Islamabad erst einmal vorgenommen, die vorhandenen staatlichen Initiativen zusammenzuführen und zu koordinieren.

Ehsaas schließt daher aktuell 288 Politiken und Programme ein, die von 34 Behörden durchgeführt werden. Und diese Liste wächst weiter. Gleichzeitig bemüht sich die Regierung zumindest ansatzweise um Transparenz: 2019 wurden öffentliche Online-Konsultationen durchgeführt, um die Strategie für Ehsaas festzulegen.

Ehsaas verknüpft so unterschiedliche Projekte wie Stipendien für Millionen benachteiligter Frauen (z.B. Witwen), zinslose Darlehen, ein Netzwerk von Obdachlosenunterkünften, die Verteilung kostenloser Mahlzeiten mittels LKWs, finanzielle Unterstützung für arme Familien und ein spezielles Programm, um die Mangel- und Fehlernährung von Kindern zu bekämpfen.

Bündelung von Gesundheitsprogrammen

Die Fäden laufen bei der Abteilung für Armutsbekämpfung und Soziale Sicherheit der pakistanischen Regierung zusammen. Sie hat es vor allem möglich gemacht, dass die Menschen sich per App über das Handy bei unterschiedlichen Programmen anmelden können.

Für westliche Vorstellungen sind die Zuwendungen zwar gering. So erhalten etwa bedürftige Familien für Jungs, die die Primarschule besuchen, umgerechnet 7,5 Euro pro Quartal, für ein Mädchen sind es 10 Euro. Das ist kein Bafög, aber doch ein spürbarer Zuschuss zu den Aufwendungen für Schuluniformen und Unterrichtsmaterial wie Bleistifte und Hefte.

In der Sekundarstufe steigen diese Sätze auf 17,5 Euro respektive 20 Euro. Zu bedenken ist dabei auch, dass im pakistanischen Durchschnittshaushalt vier Kinder leben. In einem Land, in dem das durchschnittliche Monatseinkommen im Jahr 2020 bei nur etwa 100 US-Dollar lag, sind schon minimale Zuwendungen bedeutend.

Auch im Westen hat man den Schuss vernommen und unterstützt die Initiativen. So hat die Weltbank im Frühjahr 2021 über ihre Entwicklungsagentur IDA 600 Millionen US-Dollar locker gemacht. Damit wurde die Krisenreaktionskomponente von Ehsaas weiter ausgebaut, um der Covid-19-Herausforderung zu begegnen. Auch die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit unterstützt die Umsetzung von Ehsaas.

Es ist davon auszugehen, dass Pakistan auf absehbare Zeit von Zuwendungen verschiedener Geberländer wie Saudi-Arabien und China sowie den von den USA kontrollierten internationalen Finanzinstitutionen abhängig bleibt.

Der Schuldenstand des Landes im Ausland ist mit über 85,6 Milliarden US-Dollar ziemlich beachtlich und steht bei 83,5 Prozent des Bruttonationaleinkommens. Über 25 Milliarden wurden allein in den letzten beiden Haushaltsjahren aufgenommen. Schon drängt der Internationale Währungsfonds auf Steuererhöhungen.

Andererseits hat Islamabad es in den letzten beiden Jahrzehnten hervorragend verstanden, gute Beziehungen zu fast allen entwicklungspolitisch relevanten Akteuren zu unterhalten und vor allem die Konkurrenz zwischen China und den USA produktiv zu nutzen. Es bleibt also abzuwarten, ob die Bemühungen der Regierung von Imran Khan auch dauerhaft von Erfolg gekrönt sein werden.

Dieser Beitrag ist ursprünglich bei Telepolis erschienen.

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