Mittwoch, 28. Juli 2021

Die "regelbasierte Ordnung"

LeserInnen, die regelmäßig in den MediaWatchBlog reingucken, wissen, dass das von Russland finanzierte Informationsangebot RT Deutsch hier nur sehr selten als Quelle genutzt wird. Wenn die KollegInnen aber auf bedeutende Gegebenheiten hinweisen, die im Mainstream nicht thematisiert werden, macht Ihr/Euer MediaWatch-Redakteur selbstverständlich eine Ausnahme: "Regelbasierte Ordnung: Die Rückkehr der Kolonialherren", titeln die KollegInnen etwas reißerisch (und wieso überhaupt "Rückkehr"?).

Die Bundesregierung hat in dieser Legislaturperiode den Begriff des Völkerrechts weitgehend durch die Rede von der "regelbasierten Ordnung" ersetzt. Während der Begriff Völkerrecht konkret ist, bleibt der Begriff "regelbasierte Ordnung" schwammig.

bemerkt RT völlig zutreffend. Der Ausdruck habe den Verweis auf das Völkerrecht nahezu völlig ersetzt. Diese Aussage bleibt ohne Beleg. Aber tatsächlich stammt der Löwenanteil der 187 Treffer, die eine Suche nach "regelbasierter Ordnung" beim Auswärtigen Amt (Abfrage am 27.7.2021) ausspuckt, aus den Jahren 2019, 2020 und 2021. Kein Dokument ist älter als sieben Jahre.

Spannend ist auch der Hinweis von RT auf die mündliche Frage des Bundestagsabgeordneten der Linken, Andrej Hunko, zur Definition des Begriffs der regelbasierten Ordnung durch die Bundesregierung. Staatsminister Michael Roth antwortete darauf in erfreulicher Klarheit: 

Regelbasierte Ordnung“ ist [...] ein politischer Begriff, „Völkerrecht“ ein juristischer.
Die „regelbasierte Ordnung“ umfasst neben den rechtlich verbindlichen Normen des Völkerrechts auch rechtlich nicht bindende Normen, Standards und Verhaltensregeln. Dies sind zum Beispiel das pünktliche Zahlen von Beiträgen, die multilaterale Zusammenarbeit mit dem Ziel einer kooperativen Weltordnung oder informelle Zusammenschlüsse in Freundesgruppen oder Allianzen. Der politische Begriff bezieht sich zudem auf verschiedene internationale Foren und ihre Entscheidungsregeln sowie Verhandlungsprozesse.

Das ist z.T. schlicht Blödsinn: Wer nicht pünktlich zahlt, verletzt bestehende Verträge und wird entsprechend sanktioniert. Dort, wo Sanktionsmöglichkeiten fehlen (wie z.B. im Falle von vorenthaltenen Beiträgen für die Vereinten Nationen oder deren Mitgliedsorganisationen), ist fehlende Verbindlichkeit politisch wahrscheinlich durchaus opportun, um gegebenenfalls über Erpressungspotentiale zu verfügen.

Aufhorchen lassen aber die "informellen Zusammenschlüsse in Freundesgruppen oder Allianzen", die - wie etwa die Drei-Meere-Initiative - gerade kein Ausdruck einer "kooperativen Weltordnung" sind. Sie dienen im Gegenteil der Durchsetzung von Partikularinteressen (wirtschaftlich, militärisch und strategisch) und können deshalb kein Teil völkerrechtlicher Verträge sein, die für alle Staaten gelten. Die G7, der militärisch geprägte Quad-Dialog aber auch die staatlich geförderten Aktivitäten zahlloser Nichtregierungsorganisationen in der Außen- und Entwicklungspolitik sind sinnfällige Beispiele für informelle internationale Kooperationen, die dem Völkerrecht entzogen sind und bleiben. Daher greift auch der Beitrag in Internationale Politik viel zu kurz, der den Begriff der "regelbasierten Ordnung" lediglich als Phrasendrescherei abtun möchte.

In englischer Sprache heißt der entsprechende Begriff "rules-based international order". Guckt man sich die Treffer an, die das State Department für die entsprechende Suche liefert (hier und hier) wird das Bild ziemlich eindeutig: In den meisten der etwa 100 aufgefundenen Dokumente kann man den Begriff - durchaus erhellend - durch "unsere Interessen" (meist gegenüber Russland und China) ersetzen. Beispiel gefällig?

Together, the United States and Poland maintain pressure on Russia, which continues to undermine the rules-based international order.
Und manchmal erledigt das State Department diese Arbeit auch selbst wie in diesem Dokument über das Südchinesische Meer:
[...] We share these deep and abiding interests with our many allies and partners who have long endorsed a rules-based international order. These shared interests have come under unprecedented threat [...]
Ins gleiche Horn stößt auch das durchaus angesehene Chatham House. Unter der ziemlich entlarvenden Überschrift "The Search for Global Leadership" heißt es in der Einleitung schon 2015:
Economic and political upheavals are emboldening challengers to the rules-based international system, and to the liberal Western values it embodies.
Hier wird deutlich, was für eine Ordnung gemeint ist: die westlichen "Werte", die liberale Weltordnung, also die globale kapitalistische Aneignung aller verfügbaren Ressourcen. Und die soll natürlich möglichst störungsfrei vonstatten gehen. Erfreulich konkret werden denn auch die Grünen in ihrem Reader zur 18. Außenpolitischen Jahrestagung von 2017 in dem "Analysen und Meinungen zur Verantwortung Europas für die liberale Weltordnung" versammelt sind (S.54):
Westdeutschland und später das vereinte Deutschland waren Profiteure einer Ordnung, die vor allem durch die USA entworfen und gesichert wurde. Dazu gehört unter anderem der Zugang zu Märkten und Rohstoffen, eine stabile Währungsordnung, eine international akzeptierte Markt- und Rechtsordnung, Sicherheit der Handelswege, geopolitische Stabilität in Schlüsselregionen.

Auch das Atlantic Council fasst den Begriff strategisch. Schon in der Ankündigung der hauseigenen Strategie für 2021 ("An Allied Strategy for China") kommt das völlig unverhohlen zum Ausdruck: "Strategic context: The rules-based international system". Das Ende 2020 erschienene Papier wirkt wie ein Drehbuch für die jetzt - vor allem von den USA - betriebene Konfrontationspolitik gegenüber China. 

Kein Wunder also, dass aus Peking Kritik kommt, die mittlerweile auch sehr offen geäußert wird. So zitiert das chinesische Außenministerium den stellvertretenden chinesischen Außenminister Xie Feng mit dem Hinweis:

that the U.S. side's so-called “rules-based international order” is an effort by the United States and a few other Western countries to frame their own rules as international rules and impose them on other countries. The United States has abandoned the universally-recognized international law and order and damaged the international system it has helped to build.
Ausführlicher und noch deutlicher wird die Global Times.

Um das klarzustellen: Selbstverständlich gibt es eine Reihe von Fragen, die sich mittels des derzeit existierenden ohnehin stark fragmentierten Völkerrechts nicht lösen lassen. Dazu gehören globale Umweltthemen, das (in Auflösung begriffene) Internet, grenzüberschreitende Direktinvestitionen aber auch Herausforderungen wie Pandemien. 

Doch haben sich gerade die Vertreter der "liberalen Weltordnung" immer wieder als unsichere Kantonisten erwiesen - und zwar nicht nur, wenn es um illegitime Angriffskriege geht, sondern auch hinsichtlich einer ihrer Kernkompetenzen, der Globalisierung: Es waren die USA, die die Welthandelsorganisation (WTO) erst lahmgelegt und dann weitgehend zur Wirkungslosigkeit verdammt haben (2), weil ihnen die - ursprünglich ja von Washington und Brüssel diktierten - Regeln nun nicht mehr zusagten. Was auf den Stillstand folgen soll, ist noch weitgehend unklar - in den USA ist in Bezug jetzt von "Reformen" die Rede. (Übrigens: Diese destruktive Politik hatte schon unter US-Präsident Barack Obama begonnen.)

Über die Frage, welche politischen Forderungen aus den oben gewonnenen Erkenntnissen abzuleiten sind, hat sich Hannah Birkenkötter von der Humboldt-Uni in Berlin schon 2018 zu Beginn der letzten deutschen Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat Gedanken gemacht. Bereits der programmatische Titel ihres Beitrags im immer hochkarätigen Verfassungsblog macht den zentralen Punkt sonnenklar: "Völkerrecht klar benennen: Deutschland im Sicherheitsrat und der Einsatz für die 'regelbasierte internationale Ordnung'". Eine Zusammenfassung dieses konzisen Beitrag ist müßig - Euer/Ihr MediaWatch Redakteur will nicht unter die AbschreiberInnen gehen. Daher: Unbedingt lesen! 

Gesagt sei hier nur so viel: Birkenkötter macht eine Krise des Völkerrechts aus bei gleichzeitig rasch zunehmender Verrechtlichung internationaler Beziehungen. Sie arbeitet Einzelfälle wie den Krieg gegen das Regime in Syrien ab, um dann klarzustellen, dass auch mächtige Akteure sich nicht außerhalb des Völkerrechts stellen. Eine zweite, teilweise geänderte Version dieses Textes ist im (öffentlich geförderten) Blog des Peacelab erschienen. Dort schreibt Birkenkötter:

Die staatliche Rechtsauffassung spielt daher nicht nur für die Fortentwicklung des Völkergewohnheitsrechts [Link im Original] eine Rolle, sondern ist unabdingbar für jede „regelbasierte Ordnung“: Denn eine klar artikulierte Rechtsauffassung schafft Rechtssicherheit.
Das bedeutet im Umkehrschluss aber:
Indem die Grenze zwischen Recht und Moral verwischt wird, [...] wird das Recht als unabhängiger Faktor in der internationalen Politik geschwächt. Auch das kann politisch gewollt sein, verträgt sich aber nicht mit dem gleichzeitigen Ruf nach einer stärkeren regelbasierten Ordnung.


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