Freitag, 29. April 2011

Küssen von Heiligtümern verboten

Der Islam als Teil der staatlich propagierten
nationalen Identität in Zentralasien

von Mauren Himmelsbach

Mauren Himmelsbach studiert Kultur - und sozialanthropologie an der Universität Wien. Der unten wiedergegeben Text ist die stark gekürzte Fassung einer Semesterabschlussarbeit. Für die vorliegende Fassung wurden die Fußnoten, Zitate und die theoretischen Grundlagen entfernt. Mauren Himmelsbach weist die unten dargelegte Argumentation im Original überdies am Beispiel des staatlichen Zugriffs auf die zentralasiatische Schreinkultur (auf den sich auch der Titel "Küssen von Heiligtümern verboten" bezieht) empirisch nach. Auch auf die Wiedergabe dieses Teils haben wir verzichtet. Wir glauben, dass die unten gebotenen Fakten die These von einem auch staatlich propagierten Islam in Zentralasien ausreichend belegen. Es folgt also ein wissenschaftlich fundiertes Stück, das wichtige Aspekte der jüngeren Geschichte der Region mit Überlegungen zur Genese von Staaten verknüpft und in diesem Kontext die Rolle von Religion überprüft.

In Zentralasien bildeten sich mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der 90er Jahre fünf neue unabhängige Nationalstaaten (Kasachstan, Usbekistan, Tadschikistan, Kirgistan und Turkmenistan) nach den Prinzipien einer modernen säkularen Demokratie. Der Zusammenbruch der Sowjetunion war ein historisch einschneidendes Ereignis. Für manche kam es plötzlich, über Nacht, während andere schon Vorzeichen für diese Entwicklung wahrnahmen. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion kam es zu einem allgemeinen Wiederaufleben religiöser Praxis in allen ehemals sowjetischen Gebieten. Die neu entstehenden Staaten legten und legen einen sehr starken Fokus auf nationale Identität und propagieren im Zuge dessen die lokalen Formen des Islam als nationale Tradition.

Nationalstaat und Ethnizität
Politische, soziale oder ökonomische Änderungen sind äußere Umstände, durch die neue Situationen und damit neue Kontakte entstehen. In solchen neuen Situationen kann ethnische Identität ein entscheidender Faktor sein. Und je nachdem, ob er von Vorteil oder Nachteil ist, wird eine ethnische Identität entweder betont, oder minimiert. Um ethnische Identität zu betonen werden Symbole genutzt, die mit Sprache, Glauben, Geschichte oder Verwandtschaft zusammenhängen. Es gibt viele ethnische Bewegungen die religiös sind. Der religiösen Einheit unter den Mitgliedern einer ethnischen Gruppe kommt dabei eine entscheidende Bedeutung zu.


Für die individuelle Entscheidung ist es nötig, dass die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppen einen Nutzen bietet. Letztendlich entscheidet immer das Individuum selbst wie wichtig es in der jeweiligen Situation ist, einen bestimmten ethnischen Aspekt zu betonen. Doch können ethnische Gruppen auch durch Dritte konstruiert werden. Die erste Möglichkeit ist die Zuschreibung und Kategorisierung durch herrschende Gruppen, wie zum Beispiel im kolonialen Kontext. Namen ethnischer Gruppen, die von der Kolonialmacht den natives zugeschrieben wurden, waren von dauerhaftem und stabilem Charakter und ihr Einfluss auf die ethnischen Kategorien ist bis heute zu spüren. Eine weitere Möglichkeit besteht in der Kategorisierung einer ethnischen Gruppe durch Teile derselben, wie organisatorische oder politische Führungskräfte. Die letzte Kategorie umfasst Gebote und Verbote durch Staatshandlungen oder administrative Ordnungen.

Eine entscheidende Eigenschaft von Nationalismus ist es, die Ursprünglichkeit der Nation zu betonen. Dazu werden Traditionen heraufbeschworen, die alt erscheinen oder dazu erklärt werden. Wenn möglich werden diese Traditionen auf vergangene Ereignisse zurückgeführt, wodurch eine gewisse Kontinuität hergestellt werden soll. Diese Ereignisse können wirklich stattgefunden haben, aber auch erfunden sein. Und sie müssen nicht einmal weit in die Vergangenheit zurück reichen. Der Versuch, etwas Unveränderbares zu etablieren, steht im Kontrast zu ständigem Wandel und modernen Erfindungen. Bestimmte Gruppeneigenschaften wie Gebräuche oder Religionszugehörigkeit werden zur Bildung nationaler Identität herangezogen. Dies passiert jedoch nicht, weil sie besonders authentisch sind - oder authentischer als etwa die Lebensweisen in den Städten wären - sondern vielmehr, da dadurch eine klare Unterscheidung und Abgrenzung zu den benachbarten Ländern erreicht werden kann. Außerdem wird auf diesem Wege Solidarität zwischen den Mitgliedern der Nation erzeugt, was ein wesentliches Element von Nationalismus ist. Interne Unterschiede hingegen werden nicht erwähnt. Ist Nationalismus etabliert, kann über die eigene Kultur gesprochen werden, als wäre sie eine fixe Konstante.

War die Industrialisierung auch ein entscheidender Faktor bei der Herausbildung des Nationalismus, so förderte sie doch die Abschwächung ethnischer Unterschiede. Die für die Industriegesellschaft erforderlichen einheitlichen Kommunikationsmittel und das damit verbundene Lesen und Schreiben werden zu einer verbreiteten gemeinsamen Kultur, welche lokale ethnische Unterschiede aufhebt. Ethnische Homogenität ist also der Ausgangspunkt für die durch den Nationalismus intendierte Bildung von Nationalstaaten.

Hingegen ist das Aufkommen und die Entwicklung moderner Nationen in keiner Weise die historische Fortführung einer vorherigen Zugehörigkeit. Ethnische Unterschiede haben bei der Bildung von Nationen kaum eine Rolle gespielt. Somit kann ein Nationalstaat auch mehrere verschiedene ethnische Identitäten oder Gemeinschaften beinhalten, solange diese der homogenen politischen Kultur des Gemeinwesens untergeordnet werden. Tatsächlich sind die wenigsten Staaten eine homogene ethnische Einheit.

Politische Aktion ist ein ganz entscheidender Bestandteil von Ethnizität und ihrer Dynamik. Gruppen werden nicht durch ethnische Zugehörigkeit geschaffen, sondern vielmehr erleichtert die ethnische Zugehörigkeit die Bildung von – vor allem – politischen Gruppen. Vor allem politische Gemeinschaften besitzen das Potential, den Glauben in eine gemeinsame Ethnizität zu verstärken. Dies bedeutet, dass eine gemeinsame ethnische, nationale Identität von Mitgliedern eines Staates durch den Staat selbst geformt werden kann.

Nationalstaat und Religion
Idealtypisch hängt Religion im europäischen modernen Nationalstaatsprinzip stark mit Säkularisierung zusammen. Säkularisierung ist die Verweltlichung, also die Loslösung von der Religion als Basis gesellschaftlicher Ordnung. Dass das Verhältnis von Religion und Nationalstaat auf Säkularisierung gründet, wird heute jedoch von vielen Autoren als eine westliche Idee betrachtet. Säkularisierung ist zwar das theoretische Konzept - in der Praxis hat sich jedoch gezeigt, dass eine strikte Trennung von Staat und Religion kaum je stattfindet.

Islam und nationale Tradition in Zentralasien
Bei der Bildung der nationalen Identität in Zentralasien wird die Geschichte als Mittel zur Legitimierung der politischen Macht und zur grundlegenden Bildung des Nationalstaates verwendet. Das nationale Erbe wird nach der Verfälschung durch die Sowjetunion wiederbelebt und – dargestellt als objektiv und wahrheitsgetreu - zur Bildung von nationalem Selbstbewusstsein und Stolz verwendet. Das Konzept von Nation als etwas natürlich Gegebenem stellt – gerade im Gegensatz zu den Abgrenzungsversuchen zur Sowjetunion - tatsächlich eine klare Kontinuität zu ihr dar. Ein neuer Fokus wird jedoch auf jeweilige Nationalhelden gelegt, wie Timur in Usbekistan, oder Manas in Kirgistan. So gilt Timur als der erste Begründer der usbekischen Nation und alles was seitdem geschah als Bestrebungen der nationalen Unabhängigkeit.

Ein weiterer sehr entscheidender Bestandteil des nation-building-Prozesses besteht in der Ideologie der nationalen Unabhängigkeit. Dafür wurde eine Vielzahl von Texten bewusst kreiert und gezielt verbreitet, um die Ursprünglichkeit der Nation zum einen, und zum anderen vor allem die ununterbrochene Beständigkeit ihrer kulturellen Werte zu erzeugen. In Tests wird diese Ideologie an Universitäten abgefragt, und sie ist ein ebenso fester Bestandteil der Schulbildung.

Der Anteil der namensgebenden Bevölkerung der jeweiligen Nationalstaaten änderte sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den zentralasiatischen Staaten. Es wanderten zum Beispiel KasachInnen aus der Mongolei und China nach Kasachstan ein, während viele RussInnen, UkrainerInnen und Deutsche die Länder verließen.

Noch augenfälliger waren allerdings die Veränderungen im religiösen Bereich. Die Öffnung der Grenzen erlaubte einen verstärkten Einfluss missionierender Gruppen. Auch wurden Reisen in andere muslimische Länder möglich und hinterließen Eindrücke und Einflüsse. Die Zahl der registrierten Glaubensgemeinschaften stieg enorm an. Eine große Menge Islamischer Gemeinschaften und Moscheen und Medressen (Koranschulen) entstand. Hier war die Unterstützung von Ländern wie Saudi-Arabien, den Golfstaaten und der Türkei maßgeblich. Mit Hilfe dieser Länder wurden zudem viele Bücher gedruckt und verbreitet und Islamische Literatur wurde in neuen Übersetzungen angeboten. Durch Stipendien wurden Islamische Studien im Ausland möglich. Aber auch in den zentralasiatischen Ländern eröffneten neue Islamische Hochschulen für Frauen und Männer.

In den Verfassungen von Kasachstan, Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan ist die Trennung von Staat und Religion auf die ein oder andere Art verankert. Alle zentralasiatischen Staaten garantieren die freie Wahl und Ausübung der Religion. Einzig in der Verfassung Usbekistans ist die Säkularität nicht explizit erwähnt; wohl aber die freie Wahl und Ausübung der Religion und die Trennung derselben vom Staat.

Die Öffnung der Grenzen, die vermehrten Reisemöglichkeiten und der damit einhergehende Einfluss von islamischer Literatur aus dem Ausland sowie die neuen religiösen Bildungsmöglichkeiten bedingten eine neue religiöse Orientierung bei Teilen der Bevölkerung Zentralasiens.

Gleichzeitig geht vom Staat eine starke Kontrolle des religiösen Lebens aus. Die geographische Nähe zu Afghanistan sowie die historischen und kulturellen Verbindung die hier bestehen, neue Missionierungsgruppen und Erwartungen der internationalen Gemeinschaft in Bezug auf den `Kampf gegen den Terror´ bedingen Verbote religiöser Gruppen und halten als Begründung für eine starke Kontrolle des religiösen Lebens her.

Islam als nationale Tradition in Zentralasien
Offiziell wird die freie Wahl und Ausübung von Religion und ihre Trennung von Staat und Regierung propagiert. Die Regierungen hängen aber in verschiedenster Hinsicht mit dem Islam zusammen. Am allgemeinen Wiederaufleben des Islam in Zentralasien waren die Präsidenten der zentralasiatischen Staaten aktiv beteiligt.

Die Präsidenten Usbekistans wie auch Turkmenistans vollzogen ihren Schwur bei Amtsantritt mit einer Hand auf dem Koran und der anderen auf der Verfassung. Beide absolvierten bald nach Amtsantritt die hajj (Pilgerreise) nach Mekka – eine Geste, die sich auch der kirgisische Präsident zu eigen machte. Im Fernsehen und in der Öffentlichkeit vollziehen sie religiöse Gesten - beziehen sich also nicht nur in ihren Reden auf den Islam.

Das wohl extremste Beispiel eines nationalen Islam ist wohl in Turkmenistan zu finden. Der turkmenische Präsident wird zudem bei offiziellen Auftritten oft von mehreren Mullahs begleitet. Präsident Niyazov beschreibt alle Formen des Islam, welche in anderen Teilen der Welt zu finden sind, als unvereinbar mit dem turkmenischen Glauben und hebt gleichzeitig die durch die Synkretismen mit vorislamischen Religionen entstandenen Bräuche und Traditionen als den nationalen Charakter, den Geist Turkmenistans, hervor.

Doch auch in Usbekistan wird ganz offen ein nationaler Islam propagiert. In den Medien, welche vom Staat kontrolliert werden und in der öffentlichen Werbung werden belehrende Slogans verbreitet. In der Schule wird Spiritualität und Erleuchtung unterrichtet und Universitätsprofessoren erzählen in Dörfern von der usbekischen Mentalität und der richtigen usbekischen religiösen Praxis. So prägt der Staat Definitionen, die besagen, wie das richtige religiöse Verhalten der UsbekInnen aussehen soll.

Somit wird der Islam politisch. Dies bedeutet gleichzeitig, dass der Islam eine öffentliche Angelegenheit wird und nicht auf das individuelle Privatleben beschränkt bleibt. Der usbekische Präsident Islam Karimov betont in vielen Reden und Veröffentlichungen spirituelle und religiöse Freiheit und Toleranz als demokratische Grundwerte. Doch es gibt den guten Islam, welcher dem nationalen und spirituellen Erbe Usbekistans entspricht. Und es gibt den schlechten und auch bedrohlichen Islam: Der weicht von der nationalen Tradition ab und stellt eine Gefahr für die Stabilität der Demokratie und die Sicherheit der Nation dar. Darüber hinaus wird der traditionellen usbekischen religiösen Praxis zuwiderlaufendes Verhalten mit Verrat an der usbekischer Kultur, Nation und an den Traditionen gleichgestellt Diese Unterscheidung ist der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus geschuldet.

`Muslimness´ ist dabei als die Bezeichnung für den traditionellen, typisch zentralasiatischen Islam zu verstehen. Musulmonchilik, was mit `Muslimness´ übersetzt werden kann ist ein unter den turksprachigen Muslimen in Zentralasien weit verbreiteter Terminus. Dabei drückt die Bezeichnung Muslimness einen Bezug zur täglichen religiösen Praxis aus und distanziert sich zum Islam als abstrakter Ideologie. So nutzt auch Usbekistans Präsident Karimov den Terminus musolmonchilik um eine Abgrenzung des usbekischen Glaubens zum Islam insgesamt zu schaffen und das Eingebundensein der Religion in nationale Werte und Bräuche zu betonen. Der Terminus Islam und Bestrebungen eines universellen globalen Islam werden in Usbekistan mit Extremismus verbunden.

1998 wurde das Gesetz zu Religion in Usbekistan neu gefasst. Alle religiösen Gruppen mussten sich neu registrieren. Außerdem waren eine bestimmte Anzahl an Mitgliedern, das Bestehen von hygienischen Kontrollen und die offiziell anerkannte Ausbildung der religiösen Vertreter nachzuweisen. Was für die Sowjetunion SADUM war, wurde in Usbekistan das offiziell unabhängige „Muslim Board of Usbekistan“, kurz MBU, welches Anweisungen vom „Commitee of Religious Affairs“ erhält und somit der Verwaltung des Präsidenten untersteht.

Die öffentliche muslimische Meinung wird von Institutionen generiert, welche unter staatlicher Kontrolle stehen. Diese Kontrolle ist mit dem Versuch verbunden, den Islam zu traditionalisieren. Es gibt eine klare Zusammenstellung der entsprechenden Eigenschaften von Tradition, Kultur, religiöser Praxis und Mentalität, welche durch die Regierung festgelegt werden.

Fazit
Obwohl die zentralasiatischen Staaten sich säkular geben, spielt der Islam bei der Bildung einer nationalen Identität in den zentralasiatischen Staaten eine bedeutende Rolle. Nationen beanspruchen, eine weitgehend homogene Einheit zu sein, die aus einem scheinbar langjährigen Bestehen ihre Legitimität schöpft. Dies geschieht in der Regel - und auch in Zentralasien - zum einen durch die Berufung auf nationale Helden, wie zum Beispiel Timur oder Manas. Zum anderen stehen viele Bezugspunkte in einem religiösen Kontext, so wie Bauten, religiöse Praxis oder auch Persönlichkeiten des religiösen Lebens. Die Regierungen instrumentalisieren und propagieren eine ganz bestimmte Form und Praxis des Islam als nationale Tradition und es kommt fast zu einer Synonymisierung von muslimisch und usbekisch. Die Identifizierung passiert hier vor allem als Abgrenzung zu Anderem, nicht-usbekischem, nicht-turkmenischem etc.

Deutlich wird aber auch, dass die von der Regierung ausgehenden Maßnahmen die Praxis und auch das religiöse Selbstverständnis der Menschen in Zentralasien nicht vollständig beeinflussen und bestimmen können. Es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher Zugänge und Auffassungen. Und dabei ist keine wahrer als die andere.

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