Donnerstag, 16. April 2020

"Die Salzstadt" von Li Rui - eine chinesische Familiensaga

Ein Gastbeitrag von Ina Zeuch

"Wünsche deinen Feinden ein interessantes Leben" – dieses chinesische Sprichwort könnte als Motto über Li Ruis ganzem Roman stehen. Ein 'interessantes Leben' ist im chinesischen Sinne kein erfolgreiches, selbstbestimmtes Leben, sondern steht vielmehr für menschliche Schicksale - voller Umbrüche, verhinderter Lebenspläne und Opfer von undurchsichtigen Machenschaften.

Geschmückter Palasteingang in Guilin 
In Li Ruis Familiensaga kommen revolutionäre wie konterrevolutionäre Rachefeldzüge hinzu. Zahlreiche Hinrichtungen, vier Suizide und die unzähligen Verwerfungen der Kulturrevolution durchziehen den Roman, der den Zeitraum von den frühen 1920er bis in die späten 1960er Jahre am Beispiel der Familie Li und der von ihr gegründeten Stadt Yincheng behandelt. 

In Yincheng fördert der Familienclan der Lis schon seit Generationen Salz. Ihre Salzbergwerke bieten vielen Bewohnern der Stadt Arbeit - allerdings unter sklavenänhnlichen Bedingungen. Zu unermesslichen Reichtum und zu Feudalherren über die ganze Region aufgestiegen, prägen die Lis die Stadt mit weitläufigen, prachtvollen Besitztümern, deren Zentrum die Halle der Neun Gedanken ist. Li Rui beginnt seine Geschichte ungefähr in der Mitte der Ereignisse - einer Massenhinrichtung von 108 Feudalherren, allesamt Mitglieder alteingesessener Patriarchenfamilien, die von den neuen kommunistischen Herrschern als Konterrevolutionäre verurteilt worden sind. 32 der Hingerichteten gehören der Familie Li an. In Rückblenden zeichnet er die Geschicke einzelner Familienmitglieder des Clans nach und begleitet den letzten Spross der Lis bis in die amerikanische Emigration in den späten 1960er Jahren.

Landwirtschaft im heutigen China
Die Bauern, die damals fast 90 Prozent der chinesischen Bevölkerung ausmachen, feiern mit dieser Massenhinrichtung zu Beginn des Romans den Sieg der kommunistischen Landreform, der sie ihre Freiheit verdankten.
Die siegreiche Revolution und die Proklamation Pekings zur Hauptstadt der befreiten Nation hatten das Erbe des Feudalismus vom Erdboden gefegt… Dieses Erbe hatte 2131 Jahre ununterbrochenen Bestand gehabt.
Aber Li Rui hat keineswegs einen propagandistischen Roman geschrieben, der die Kommunistische Partei und die Staatsgründung der Republik Chinas abfeiert. Vielmehr verschränkt er Schicksale aus allen sozialen Schichten, da in dieser Zeit voller Umbrüche alle zu Opfern werden. Er fällt kein Urteil darüber, wer der ‚gerechten Sache‘ geopfert wird und wer nicht. Er verhehlt keineswegs die Grausamkeit und moralische Schwäche einzelner kommunistischer Führer und vor allem beschreibt er das Scheitern der Kulturrevolution, die ausgebildete Akademiker, bewährte Parteigenossen und nachgeborene Familienmitglieder ehemaliger Feudalherren bekämpft. Teils werden sie verbannt, teils öffentlich gedemütigt und sogar in den Selbstmord getrieben. Auch einzelne Fälle von Lynchjustiz kommen vor, die nicht geahndet, sondern vielmehr als Treue zum Führer Mao Zedongs gerechtfertigt werden. Li Rui war selbst ein Opfer der Kulturrevolution.

Landwirtschaft mit Fischzucht im heutigen China
In der Figur Li Naizhis, Hoffnungsträger und Erbe für die Besitztümer des Li-Clans, beschreibt er  die Karriere eines Überläufers, die abrupt mit der Kulturrevolution endet. Li Naizhi schließt sich nach der standrechtlichen Enthauptung seines kommunistischen Lehrers selber dieser Bewegung an. Die Bildung und Schlichtheit im Auftreten seines Lehrers sowie sein furchtloser Tod wird ihm zum Leitbild und begründet sein beginnendes Interesse für die Verhältnisse, in denen er aufgewachsen ist und in denen er qua Geburt zur Seite der Gewinner gehört. Auch seine Schwester schließt sich der kommunistischen Bewegung an. Obwohl eher unpolitisch und tiefreligiöse Buddhistin unterstützt sie ihren Bruder, weil sie mit ihm sterben will, wenn er als Verräter an seiner Klasse hingerichtet werden sollte. Ausgerechnet in der Halle der Neun Gedanken, dem Heiligtum der Lis, in denen sich die Aktionäre der Bergwerke - alle der Li-Dynastie angehörend - sich zu ihren Geschäftstreffen einfinden, finden nun die geheimen Treffen der Kommunisten statt.
Ehemalige Residenz einer Patriarchenfamilie in Tongli / Südchina
Gleichzeitig erzählt Li Rui auch den Aufstieg des Bauernsohns Bai Ruide, der - teils mit Stipendien, teils durch die Ersparnisse seines Vaters - eine Ausbildung in Japan und später den USA erhält. Der Tod seines Vaters erzwingt den Abbruch dieses vielversprechenden Weges. Auf der Heimreise lernt Bai Ruide einen amerikanischen Ölmagnaten kennen, für dessen Begehrlichkeit auf die Ressourcen Chinas der junge Aufsteiger genau der richtige Geschäftspartner ist. Mit dessen Hilfe begründet Bai Ruide einen schnellen Reichtum, der kein mühsamer Aufstieg über viele Generationen mehr ist und im feudalistisch geprägten Yincheng einschlägt wie eine Bombe. So wird etwa das ehrwürdige Teehaus, indem vordem die Patriarchen ihre Geschäfte mit auswärtigen Partnern besprachen, von dem Neureichen aufgekauft und modernisiert.

Mit der Tradition alter Machtinsignien hat Bai Ruide aber nichts zu schaffen. Während das Oberhaupt der Lis sich von vier Trägern in einer Sänfte durch Yincheng befördern lässt, fährt Bai Ruide das erste Auto der Stadt. So modern und emanzipatorisch dieses neu aufblühende Imperium auch erscheint, es ist nicht weniger ausbeuterisch als das der Lis. Der Autor nutzt die Kontraste zwischen diesen beiden Reichen, um die Konturen einer Gesellschaft auf dem Weg in die Moderne zu zeichnen, deren Widersprüche immer deutlicher hervortreten. Zwischen japanischer Besatzung, Bauernaufständen, kommunistischer Untergrundbewegung und dem Beharren der Feudalherren verlaufen die Gräben: Manchmal kämpfen erbitterte Feinde gemeinsam gegen die Japaner nur um sich später bei der Gestaltung einer postfeudalen Gesellschaft erneut zu bekriegen. Bai Ruide wird später mit seiner Familie - wie viele andere - vor den Kommunisten nach Taiwan fliehen.

Park in Guilin / Südchina mit Mondpagode
Interessant und höchst aufschlussreich sind die Details, die die Geschichte des Romans offenbaren. Zum Beispiel dieses: Um die Arbeiter, die die Karren voll Salz aus den Bergwerken schleppen, zu längerem Duchhalten zu animieren, werden am Grubenrand sogenannte Singmädchen aufgestellt. Sie sind Prostituierte, die sich möglicherweise mit dieser armseligen Tätigkeit noch ein kleines Zubrot verdienen. Der Wasserträger der Lis, der acht bis zehn Stunden am Tag die weitverzweigten Gehöfte mit Wasser versorgt, verliebt sich in eines der Mädchen und möchte sie freikaufen. Aber als er endlich genügend Geld dafür hat - großzügig von den Lis gespendet, weil er ein Kind aus dem Brunnen gerettet hat - ist sie bereits vor Jahren an Auszehrung gestorben.
Eingang zu einem buddhistischen Höhlentempel in Guilin
Auch die Geschichte Li Zihen, der Schwester von Li Naizhi, ist ergreifend. Als älteste der verwaisten Geschwister nach der Hinrichtung der 32 Familienmitglieder wird sie unter der Obhut des Onkels Li Jingshengs zur Ersatzmutter für ihre Geschwister. Mit ihrer Heirat muss ihr Bruder seine Ausbildung abbrechen und in das von ihm verhasste Imperium der Lis zurückkehren, wo er die für ihn vorgesehene Rolle des Familienoberhauptes einnehmen und später zum Nachfolger Li Jingshengs werden soll. Aber Li Zihen hat dem Vater an dessem Totenbett versprochen, allen ihren Geschwistern eine Ausbildung zu ermöglichen. Solange sie also noch unverheiratet zu Hause bleibt, kann Li Naizhi seine Ausbildung weiter verfolgen. Deshalb zögert sie ihre Heirat immer wieder heraus, indem sie alle Werbungen ausschlägt. Das aber löst das Problem keineswegs. Deshalb entschließt sie sich zu einem radikalen Schritt: Sie verunstaltet ihr Gesicht bis zur Unkenntlichkeit mit brennenden Räucherstäbchen und verhindert so ihre Verheiratung.

In der aufkommenden kommunistischen Bewegung steht sie ihrem Bruder zur Seite, verteilt Flugblätter und organisiert - als buddhistische Nonne getarnt - die konspirativen Treffen in der Halle der Neun Gedanken. Unberührt von den veränderten Besitzverhältnissen durch die kommunistische Revolution - das Familienanwesen ist konfisziert - bleibt sie zusammen mit ihrem Wasserträger im ehemaligen Palast wohnen, weil sie als Heldin der Revolution angesehen wird. Anders wie ihr Bruder wird sie nicht im nachhinein durch die Kulturrevolution diskrediert und bleibt praktizierende  Buddhistin bis zu ihren Tod.

Höhlentempel in Guilin
Interessant ist der frühe, klassenübergreifende Stellenwert von Bildung im alten wie im neuen China, wie die Beispiele Li Zihen und Bai Ruide zeigen. So nimmt Li Zihen für die Ausbildung ihrer Schwestern ein in Tradition erstarrtes, ereignisloses Leben in Kauf. Einzig die Heiratspolitik verbleibt in engen Klassengrenzen. Die Vielehe in der Oberschicht wird dabei von ihren Frauen mitgetragen: Sie sind es, die ihren Ehemännern bei Kinderlosigkeit neue Frauen vorschlagen, um das Erbe zu sichern. Vieles, was man in Li Ruis "Die Salzstadt" erfährt, überrascht und vermittelt anschauliche Einblicke in eine Zeit der Umbrüche, die zum heutigen China geführt haben.

Wer sich also jenseits von westlichem China-bashing und kommunistischer Heldenpropaganda ein Bild über dieses große und für uns immer noch so rätselhafte Land ein Bild machen möchte, für den ist Li Ruis "Die Salzstadt" eine großartige Gelegenheit und bietet außerdem eine spannende Lektüre aus erster Hand.

Umschlag des Romans "Die Salzstadt" von Li Rui

Alle Fotos von Uwe Kerkow und Ina Zeuch

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