Samstag, 17. Mai 2014

Nordnigeria

Mittlerweile pfeifen es die Spatzen von den Dächern: Die nigerianische Zentralregierung in Abuja kümmert sich scheinbar einen Sch*** um die Entführung der 230 Schülerinnen im Nordosten des Landes. Die Geschichten, von den Eltern, die auf eigene Faust in den Busch gehen, um ihre Töchter wiederzufinden (Vanguard), die von Boko Haram zeitlich perfekt platzierte Drohung, man wolle die Mädchen verkaufen (G-News dt.) sowie die Art und Weise, wie die Gruppe ihren weltweiten Propagandaerfolg noch vertieft (2!), illustrieren die Hilflosigkeit sehr anschaulich. Amerikaner und Briten sind mittlerweile vor Ort, Frankreich und China haben ebenfalls Hilfe angeboten (Vanguard). Wenn die Miliz dagegen auszieht, um Hunderte von Menschen zu massakrieren, ist die Reaktion im Westen weit weniger ausgeprägt.

Leider geht bei der Berichterstattung einiges drunter und drüber. Die Behauptung etwa, Boko Haram wolle Scharia, ist so nicht haltbar, denn die islamische Rechtsprechung ist im Norden Nigerias längst Alltag. Meist wurde sie schon vor rund zehn Jahren eingeführt.

Abgesehen von der besch*** Wortwahl "Heilige Krieger" schreibt die Frankfurter Rundschau ziemlich vernünftig (wenn auch erst im drittletzten Absatz):
Die große Mehrheit der [in Nordnigeria] beheimateten Muslime ist mit den Methoden der Heiligen Krieger nicht einverstanden – doch deren Unzufriedenheit mit dem Status quo teilen sie. Während der erdölreiche Süden Nigerias boomt und die Wirtschaftsmetropole Lagos immer neue Investoren anzieht, fällt der Norden mehr und mehr zurück. Dort sind die Menschen inzwischen ärmer als bei der Unabhängigkeit vor über einem halben Jahrhundert.
Doch Marginalisierung ist nicht alles, was eines Berichtes wert wäre. Niemand scheint sich z.B. ernsthaft dafür zu interessieren, wie die Verantwortlichen reagieren. Dabei lässt sich an deren Aktionen zumindest ganz gut ablesen, was man vor Ort für Probleme vorzufinden meint: Zunächst einmal wird demnächst wohl der Ausnahmezustand für drei Bundesstaaten (Vanguard) im Nordosten (Borno, Yobe und Adamawa) verlängert. Aber neben dieser klassischen Law-and-Order-Politik versucht sich Abuja auch an einer Schulreform im Norden, die die Gemüter beruhigen helfen soll und gleichzeitig mehr staatliche Kontrolle bringen könnte: Abuja will die klassischen "almajiri"-Schulen für zehn Millionen Koran-SchülerInnen in ein sogenanntes "tsangaya"-Modell überführen (allAfrica.com). Das soll Grundzüge westlicher Bildung bringen und zudem die Bettelei einhegen - denn die bitterarmen Kids müssen für ihr Essen und das Auskommen ihrer Lehrer auf der Straße um Almosen bitten. Da wären staatlich finanzierte Schulen klar von Vorteil - auch wenn der damit einhergehende staatliche Einfluss von den meisten Menschen in den betroffenen Regionen wohl kritisch gesehen wird. Wer zudem diesen sehr guten Text zur Bedeutung des Namens "Boko Haram" (CSM) zu Rate zieht, erkennt schnell die kulturell-historische Bedeutung des tsangaya-Experiments:
Rather than send their own children to the British government schools, as demanded by the British, Hausa emirs and other elites often shifted the obligation onto their slaves and other subservients. The elite had no desire to send their children to school where the values and traditions of Hausa and Islamic traditional culture would be undermined and their children would be turned into ’yan boko,’ i.e., “(would-be) westerners”.
Und auch die spezifischen Konfliktursachen werden in unseren Massenmedien nicht näher untersucht. Denn ein bürgerkriegsähnlicher Zustand, wie ihn Boko Haram teilweise auch unter Einsatz schwerer Waffen schon seit 2010 aufrecht erhält, lässt sich - selbst im dünn besiedelten Nordosten Nigerias - kaum ohne die Unterstützung von interessierter politischer Seite aufrecht erhalten. Das schlichte Schlagwort "Terrorismus" hilft da nur bedingt weiter. Leider sind die Quellen dazu sehr dünn. Denn jedeR KollegIn, aus Nigeria der/die es wagen würde, Namen zu nennen, spielte mit dem Leben.

Dennoch kommen immer wieder Merkwürdigkeiten ans Tageslicht. So tauchen hin und wieder Berichte auf, nach denen Mitglieder des Führungsstabes von Boko Haram Kontakt zu regional bedeutenden Politikern im Norden Nigerias haben (Sahel Blog, Vanguard). IRIN schrieb Mitte 2012:
Many in the south believe Boko Haram is sponsored by powerful northern politicians whose aim is to pressure the Jonathan administration into dropping any plans he may harbour of extending his term in office. His election victory in 2011 was a bitter contest, and much of the northern vote is likely to coalesce around a candidate from that region in 2015.
Solche Nachrichten haben allerdings an Bedeutung verloren, nachdem Boko Haram die Verantwortung für Anschläge auf eine ganze Reihe von traditionellen Führern in Nordnigeria zu Last gelegt wird (Sahel Blog). Dabei ist allerdings schon seit Jahren nicht mehr klar, wer genau zu der Gruppe gehört (vgl. oben zitierte IRIN-Analyse) und welche Verbrechen ihr wirklich angelastet werden können. Zudem gibt es offensichtlich kriminelle und politisch motivierte Trittbrettfahrer (Vanguard).

Mit schlichter Terrorbekämpfung ist es jedenfalls - auch angesichts der Nähe des Operationsgebietes von Boko Haram zu Kamerun, Niger und Tschad - nicht getan. Vielleicht kann der französische Präsident Francois Hollande in diesem Punkt ja tatsächlich weiterhelfen. Übrigens: Nigeria gibt ein bereits Fünftel seines seines Staathaushalts für Sicherheit aus (allafrica, elombah). Das sind 2014 umgerechnet etwa 4,5 Mrd. Euro.

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