Manchmal ist es ein Glück, etwas entdecken zu können, das man eigentlich längst schon kennen müsste. So etwa, wenn man unversehends auf den Roman "Morenga" von Uwe Timm stößt. Dieses bereits 1978 entstandene Werk beschreibt den Aufstand der Nama ("Hottentotten") gegen die deutschen Kolonialherren. (Anders, als in vielen Besprechungen dargestellt, spielt die Vernichtung der Herero kaum eine Rolle in dem Werk.)
Timm gelingt es in einzigartiger Weise offizielle Dokumente, zeitgenössische persönliche Aufzeichnungen, Reiseberichte, Presseveröffentlichungen mit ungezählten historischen Anekdoten, Details und militärischen Gegebenheiten und nicht zuletzt wundervoll phantastischer und manchmal sogar bösartiger Fabulierkunst zu einem hochbrisanten Cocktail zusammenzubrauen.
Ein wahrer Zoo neurotischer Kolonialisten tritt gegen eine feindliche Umwelt und gegen eine hochintellegente, feindlich gesonnene Bevölkerung an. Persönliche Motive der Eroberer, ihr Wille zu Macht und/oder Reichtum, werden in diesem Prozess oft gründlich zersetzt. Doch ob die Protagonisten klug, dumm, gläubig, überheblich, korrekt, nachlässig, gierig, verwirrt, verzweifelt oder verstört sind - immer wird die Brutalität und Sinnlosigkeit der kolonialen Unternehmungen sichtbar.
Man erwischt sich beim Lesen dabei, dass man sich wünscht, der Autor möge sich diese oder jene Passage nur ausgedacht haben; wohl wissend, dass das nicht der Fall ist. Wie da berichtet wird, das ist große Kunst, die den Vergleich mit einem Buch wie "Der Herbst des Patriarchen" nicht zu scheuen braucht. Was uns da gut konserviert aus teilweise über hundert Jahre alten Dokumenten deutscher Gründlichkeit entgegenspringt, wirkt durch die unbekümmerte Bestialität seltsam magisch.
Wir erfahren, welche Rolle Ölsardinen bei der Landnahme spielen und werden über die pädagogische Nachhaltigkeit des Tauendes belehrt. Wir lernen Einheimische kennen, die die Verteter der Herrenrasse mit gnadenlosem Spott überziehen. Sie erschüttern das Selbstvertrauen der fremden Religionsvertreter mittels solider Bibelkenntnisse und das deutscher Militärs mit ausgeklügelter Guerillastrategie. Wir erleben den Untergang eines riesigen Rumfasses in der Dornbuschsavanne und verfolgen gespannt, welche Auswirkungen es hat, wenn ein Oberveterinär der deutschen Truppe während des Feldzuges heimlich den russischen Anarchisten Kropotkin liest.
Aus all diesen Splittern setzt sich im Verlauf von 400 Seiten ein Panorama der Ereignisse zusammen, das der erstaunlich geringen Mühe des Lesens ohne Einschränkungen wert ist.
Dienstag, 27. November 2012
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