Es ist daher an der Zeit, mit einem alten Vorurteil aufzuräumen: Das Nahrungsmittelangebot entscheidet keineswegs darüber, wie viele Menschen Hunger leiden müssen.
- Eine Ausdehnung der landwirtschaftlichen Produktion - wie groß sie auch immer ausfällt - wird die künftige Entwicklung der Lebensmitelpreise kaum beeinflussen.
- Steigende Lebensmittelpreise haben keinesfalls nur negative Auswirkungen. Es gibt strategische Ansatzpunkte für die Bewältigung der durch die Preissteigerungen verursachten Probleme.
Deshalb sind erhebliche Preissteigerungen im Agrar- und Nahrungsmittelbereich unabwendbar: Da ist zunächst die Nachfrageseite, weil Energiebedürfnisse mit der 'thermischen Verwertung' der meisten Lebensmittel (Getreide, Öle) gedeckt werden können (Substituierbarkeit). Laut einer Studie des Evangelischen Entwicklungsdienstes würden beim derzeitgen Stand der Dinge
weltweit 850 Millionen Hektar für den Anbau von Energiepfanzen benötigt, nur um den Energiebedarf des Transportsektors zu decken. Dies entspricht der gesamten derzeitigen Anbaufäche für Nahrung und agrarische Rohstoffe (...) in den Entwicklungsländern. Global stehen momentan für Ackerbau und Viehhaltung 1,5 Milliarden Hektar Fläche zur Verfügung – man bräuchte also mehr als die Hälfte davon, um mit Agrotreibstoffen den Energiebedarf nur des Verkehrs zu decken. Potenziell sind weltweit angeblich 4,2 Milliarden Hektar nutzbar, aber nur zu extrem hohen Kosten.Das Transportwesen macht wiederum aber 'nur' 30 Prozent des Weltenergieverbrauches aus. Wer also Preiseffekte für Agrarprodukte verspricht, wenn nur die landwirtschaftliche Produktion schneller wachse als die Weltbevölkerung, betreibt Augenwischerei. Jede einzelne Kilokalorie, die nicht verzehrt wird, wird in irgendeinem Fahr- oder Flugzeugtank landen, zum Heizen (oder Kühlen) von Wohnraum dienen oder zur Herstellung von Gütern (und Dienstleistungen). Und die Verbraucher in den Industrieländern werden noch eine ganze Weile erheblich mehr Geld für Sprit bezahlen können, als die Armen in den Entwicklungsländern für Nahrungsmittel.
Kommen wir zu der - von den meisten entwicklungspolitisch Engagierten leider stark vernachlässigten - Angebotsseite. Die steigenden Energiepreise werden das agrarische Preisgefüge auch angebotsseitig stark verändern: Direkt über steigende Energiepreise (Bodenbearbeitung, Ernte, Wasserbeschaffung, Nachernteprozesse wie Kühlung, Trocknung, Transport und Aufbereitung). Indirekt über steigende Preise fast aller anderen Vorleistungen und Investitionen wie Düngemittel, Maschinen, Zement bis hin zu Reifen und Treibhaustechnologie.
In einem Rückkoppelungseffekt werden schließlich die steigenden Preise für Agrarrohstoffe dafür sorgen, dass Ackerland teurer wird. Denn es wird lohnender werden, es zu bewirtschaften.
Zusammen genommen werden diese Trends letztlich dazu führen, dass die industrielle Landwirtschaft gegenüber den Kleinbauern immer weniger konkurrenzfähig wird. Und je teurer Energie wird, umso stärker wird dieser Trend werden. Damit dürfte es aber immer schwieriger werden, große Flächen zu bewirtschaften. Und die steigenden Preise werden zudem Agraprodukte begünstigen, die ohne großen Aufwand erzeugt werden können und deshalb halbwegs erschwinglich bleiben (zum Beispiel Cassava oder Hirse statt Mais).
Joâo Pedro Stedile, Sprecher der Bewegung der Landlosen (MST) in Brasilien und der Via Campesina Internacional hat diese bevor stehende Umwälzung erkannt: "Es geht um jeden Fußbreit Boden" (Freitag). Und schon der Titel des Textes weist auf die zentrale poltische und entwicklungspolitische Herausforderung hin: Der Schlüssel zu einer energieextensiven Landwirtschaft liegt in der Verteilung des Landes in möglichst viele Hände.
Vergessen werden sollte auch nicht der wichtige vom Wirtschaftsnobelpreisträger Armatya Sen aufgestellte Grundsatz: Hunger ist eine Funktion des Einkommens, ' - und nicht des Nahhrungsmittelangebots', möchte man ergänzen. Die Verteilung von Land und Einkommen ist der Schlüssel, um den Hunger zu besiegen - alles andere ist zweitrangig.
Hören wir also auf, Krokodilstränen über unserem Fleischkonsum zu vergießen und von Konsumverzicht zu schwafeln. Steigende Preise werden uns ohnehin schon noch dazu zwingen. Setzen wir uns ein für Landreformen und Beschäftigung (nicht nur aber vor allem) im Süden. Sonst werden wir vielleicht die Wiederauferstehung der 'alten' Sklavenhaltergesellschaften mitansehen müssen - angereichert durch die jeweils vorletzte Überwachungstechnologie.
Wenn wir die oben beschriebenen Chancen beim Lesen der folgenden Worte von Sen mitdenken, werden diese schon fast zu einem Versprechen:
There is no particular problem, (...) in achieving nutritional security through the elimination of poverty (so that people can buy food) and through the availability of food in the world market (so that countries can import food if there is not an adequate stock at home).
(...) many countries which are desperately poor also happen to earn most of their income from food production. This is the case, for example, for many countries in Africa. But if these countries were able to produce a good deal of income (...), they can become free of hunger even without producing all the food that is needed for domestic consumption. The focus has to be on income and entitlement, and the ability to command food (...).
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