Mittwoch, 22. Februar 2012

"Die unbekannte Mitte der Welt"

Eine Buchbesprechung von Ina Zeuch


Der Autor Tamin Ansary wurde 1948 in Afghanistan geboren und hatte schon als Kind ein Faible für Geschichte. In seiner Einleitung erzählt er, wie ihm ein englischer Historiker bei seinem Afghanistan-Besuch eine „Die Geschichte der Menschheit“ schenkte. Ansary verschlang das Werk und machte sich so zunächst ganz unbedarft die westliche Sicht auf die Welt zu eigen. Bei seiner Migration in die USA stellt er fest, dass diese westliche Sicht, wie er sie als Kind vor Jahrzehnten kennengelernt hatte, in den amerikanischen Schulbüchern mit großer Selbstverständlichkeit als ganze Geschichte der Welt dargestellt wird. Diese Arroganz und nicht irgendeine religiöse Mission ist es, die Ansary veranlasste, seine Geschichte der Welt aus einem anderen Blickwinkel vorzulegen.
Der Islam könnte genauso in einem Unterrichtsfach besprochen werden, dass sich daneben mit Kommunismus, Demokratie (…) und so weiter beschäftigt, denn der Islam ist wie diese ein gesellschaftliches Projekt, ein System zur Ordnung von Politik und Wirtschaft mit einem vollständigen Zivil- und Strafrecht. Andererseits ließe sich der Islam mit der gleichen Berechtigung in einem Unterrichtsfach behandeln, dass sich mit der chinesischen, der indischen oder westlichen Zivilisation beschäftigt, denn er hat ein ganzes Universum an Kulturgütern hervorgebracht (…)
Was Ansary unmissverständlich und sehr anschaulich aufzeigt, ist, dass der Islam weit mehr als nur eine Religion ist. Der Islam verstand sich von Anfang an als ein gesellschaftliches Projekt und er war - wie die atemberaubende Ausbreitung des Islam in den kommenden Jahrhunderten zeigt – ein sehr erfolgreiches Projekt; weit mehr als eine Randerscheinung. Die Eroberung von Gebieten endete nur sehr selten mit der Vertreibungen der dort ansässigen Bevölkerungen. Die muslimischen Eroberer zogen es vor, die neuen Untertanen einzubinden. Schließlich zahlten diese Steuern, machten also auch ein guten Teil des wirtschaftlichen Erfolgs des Islam aus. Sie durften ihre Religion beibehalten und eine moderate Karriere verfolgen. Oft konvertierten sie, weil das Angebot auf der ‚anderen‘ Seite einfach besser war. Diese lapidare und ganz pragmatische Sicht, fern jeglichen ideologischen Begrifflichkeiten macht das Buch von Ansary so angenehm zu lesen.

Und der Autor schildert auch, wie eine Zivilisation, die sich bis etwa zum 13. Jhd. n. Chr. so atemberaubend schnell ausgebreitet hatte, dann so ins Hintertreffen geraten konnte. Dieser Frage geht Ansary en detail nach und zeigt in diesem Zusammenhang eine Vielzahl von politischen und gesellschaftlichen Degenerationserscheinungen auf. Die Genauigkeit und die kritische Distanz, die Ansary bei seiner Analyse des Niedergangs des Islam walten lässt, würde man sich in der aktuellen Diskussion um angebliche oder tatsächliche westliche Werte herzlichst wünschen.

Ein weiterer großer Erzählstrang der Geschichte des Islam ist natürlich das Schisma, das Schiiten und Sunniten hervorbrachte und politisch die Exklusion des schiitischen Persien nach sich zog. Und neben den radikalen Strömungen, die sich nach Auffassung des Autors vor allem in Zeiten von Niederlagen bilden - wie die des Salafismus - erfahren wir auch von mystischen Strömungen wie dem des Sufismus, den der Autor sogar mit einigen Vorstellungen des Buddhismus und Hinduismus vergleicht. Die mystische Einheit mit Gott ohne Vermittler war eine Art Ausweg aus dem engen Apparat der Dogmen, eines unendlich komplizierten Regelwerks, das alle Lebenssituationen einbezog und die ständige Suche nach Aussprüchen des Propheten zu allen Lebenslagen zu einer aufwändigen Aufgabe machte.

Schließlich stellt sich Ansary einem aktuellen Kapitel der Geschichte des Islam, dem modernen Dschihad. Er stellt dazu Fragen, die weitaus tiefer reichen als das Niveau der bekannten Rhetorik: Dass Dschihadisten einen Hass auf die westliche Freiheit hätten, geht aus keiner ihrer Absichtserklärungen und Bekennerschreiben hervor. Nicht „Unfreiheit versus Freiheit und Demokratie versus Diktatur“ bildet nach Ansary hier die Demarkationslinie, sondern - klassisch dem im Buch beschriebenen gesamtgesellschaftlichen Ansatz des Islam verpflichtet– sind es eher die Gegensatzpaare „Disziplin versus Dekadenz, moralische Reinheit versus moralischem Verfall“. Die Annahme, der Westen stünde automatisch für laizistisch, transparent und demokratisch, wird nebenbei, aber ganz zu Recht in Zweifel gezogen: Die Praxis des Westens, ihm genehme Muslime zu unterstützen, die islamische Zivilisation aber abzulehnen oder sie sogar zu bekämpfen sowie das allgegenwärtige, opportune Messen mit zweierlei Maß kritisiert der Autor scharf.

Und wieder zeigt Ansary, der durch seinen unbestechlichen Stil so begeistert, die wahre Kluft auf: Die hilflose Ohnmacht gegenüber einer in praktisch allen arabischen Ländern sich festsetzenden Zweiklassengesellschaft. Die eine Klasse lebt mit allen westlichen Vorzügen, wohnt in den schicken Businesszentren der Städte und hat gutbezahlte Jobs. Die andere rackert sich oft in spärlicher Subsistenzwirtschaft ab oder verrichtet schlechtbezahlte niedere Jobs ohne Aussicht auf eine bessere Zukunft.
„Aus Sicht der anderen Seite erinnern die moralischen und militärischen Feldzüge der letzten Jahre sehr an das altbekannte Programm zur Schwächung der Muslime in ihrer eigenen Heimat. Westliche Bräuche, Rechtssysteme und Demokratien wirken wie ein Projekt, mit dem die Gesellschaft so weit zerschlagen werden soll, bis nur noch der Einzelne übrig bleibt, der als wirtschaftlicher Akteur aufgrund seines rationalen Eigeninteresses autonome Entscheidungen trifft (…) ein Konkurrenzkampf aller gegen alle um materielle Güter(...)“
Für Ansary liegt hier jedoch kein „Kampf der Kulturen“ vor, sondern vielmehr eine „Reibung zweier aufeinander treffender, aber nicht zueinander passender Weltgeschichten“.

Tamin Ansary: „Die unbekannte Mitte der Welt – Globalgeschichte aus islamischer Sicht“, erschienen im Campus-Verlag Frankfurt 2010.
Die englische Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel: „Destiny Disrupted. A History of the World Through Islamic Eyes“.

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