Freitag, 9. Dezember 2011

Social Watch 2012: Nachhaltigkeit - Anspruch und Wirklichkeit

Gerade ist der Social Watch Report 2012 erschienen. Er hat Nachhaltigkeit in allen ihren Aspekten zum Thema.

Wie in jedem Jahr hat Social Watch Deutschland wieder einen Bericht über die soziale Entwicklung hierzulande beigesteuert. Allen, denen es zu mühselig ist, die englische (oder gar spanische) Übersetzung zu lesen, bieten wir hier den deutschen Ursprungstext:

Nachhaltigkeit in Deutschland: Anspruch und Wirklichkeit
Uwe Kerkow
Social Watch Deutschland

Das Konzept der Nachhaltigkeit ist in der deutschen Politik und Wissenschaft durchaus verankert, etwa beim Rat für Nachhaltige Entwicklung.  Dessen Aufgaben bestehen vor allem darin, zur Umsetzung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie  beizutragen, konkrete Handlungsfelder und Projekte zu benennen sowie Nachhaltigkeit zu einem wichtigen öffentlichen Anliegen zu machen. Die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie existiert seit 2002 und enthält vielfältige Hinweise auch auf die sozialen Dimensionen und Implikationen des Konzepts. Die Strategie wurde seit ihrer Veröffentlichung jedoch nicht mehr aktualisiert.

Der Rat für Nachhaltige Entwicklung führte 2009 ein Peer Review durch, der in Bezug auf die Umsetzung des Nachhaltigkeitsgedankens in Deutschland zu einem ambivalenten Urteil kommt:
"At the level of ideas the concept of sustainable development has been widely  accepted in general terms. But when broken down to specific issues and at sectoral level there appears to be much more reluctance, resistance and mistrust."  Und: "The biggest single potential mismatch between objectives for 2050 and the state we are in now lies in the field of climate change.
Im Koalitionsvertrages der amtierenden konservativ-liberalen Regierungskoalition ist ein Kapitel dem Thema "Klimaschutz, Energie und Umwelt" gewidmet. Darin heißt es:
"Das Prinzip der Nachhaltigkeit prägt unsere Politik. (...) Unser Ziel ist es, die Erderwärmung auf maximal 2 Grad Celsius zu begrenzen (...) Wir werden die erneuerbaren Energien konsequent ausbauen. (...) Wir werden die Entwicklungsländer bei der Bekämpfung des Klimawandels und der Bewältigung seiner Folgen stärker unterstützen." 
Nachhaltigkeit in der Praxis: Zum Beispiel Energiewirtschaft
Die Wirklichkeit deutscher Nachhaltigkeitspolitik zeigt sich am deutlichsten in der Energiepolitik. Denn einerseits bestehen hier wichtige Stärken der deutschen Wirtschaft, wie z.B. der Anlagenbau. Andererseits sind die erneuerbaren Energien immer noch auf Subventionen durch Politik und Verbraucher angewiesen. Das macht sie zu einem Spielball politischer Entscheidungen, wie die derzeitige Regierung bereits mehrfach bewiesen hat:

Einen krassen Bruch mit der bisherigen deutschen Energiepolitik stellte die Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken dar, die Ende Oktober 2010 vom Bundestag beschlossen wurde.  Im Jahr 2002 hatte der Bundestag beschlossen, die Nutzung der Kernenergie langfristig zu beenden, die Restlaufzeit der der Atommeiler auf 32 Jahre zu beschränken und keine Neubauten von Atomkraftwerken zu genehmigen. Mit dem Beschluss von 2010 wurden die Laufzeiten um durchschnittlich 12 Jahre verlängert.  Dieser Beschluss wurde gefasst, obwohl keine Lösung der Endlagerfrage für Atommüll in Sicht ist  und es seit Jahrzehnten eine stabile Mehrheit in der Bevölkerung gegen die Atomenergie gibt. 

Gleichzeitig bekommen die erneuerbaren Energien weniger Zuschüsse. Vor allem die Solarförderung wird weiter gekürzt,  obwohl es Belege dafür gibt, dass die Erneuerbaren die Stromproduktion günstiger machen.  Der Sachverständigenrat für Umweltfragen hält eine 100-prozentige Stromversorgung aus regenerativen Energiequellen bis 2050 für möglich.  Als Reaktion auf die Atomkatastrophe von Fukushima vollzog die Bundesregierung eine erneute Kehrtwende und legte sieben Kernkraftwerke vorübergehend still. Zudem kündigte sie an, den Ausstieg aus der Atomenergie beschleunigen zu wollen.  Ob dies zu einem tatsächlichen Politikwechsel führt, muss abgewartet werden.

Nachhaltigkeit in der Praxis: Die soziale Dimension

Eine ganzheitliche Nachhaltigkeitsstrategie muss auch die soziale Dimension berücksichtigen. Die wichtigste sozialpolitische Diskussion hat in Deutschland 2010 das Bundesverfassungsgericht ausgelöst: Mit seinem Urteil vom 9. Februar 2010, die Sozialtransfers in Deutschland ("Hartz IV") müssten in einem "transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren" bemessen werden, zwang es die Politik zu einer Neubewertung der Sozialleistungen.
 
Eine Studie der evangelischen Wohlfahrtsorganisation Diakonie errechnete, dass eine 10- bis 30-prozentige Steigerungen der Sozialleistungen nötig ist, um die Vorgaben des Gerichts zu erfüllen.  Statt dessen einigte man sich im Februar 2011, die Leistungen lediglich um fünf Euro (etwa 1,5 Prozent) und 2012 noch einmal um drei Euro (< 1 Prozent) zu erhöhen. 

Gleichzeitig sind die Unterschiede zwischen Arm und Reich in Deutschland stetig gewachsen. Das belegte eine OECD-Studie von 2010,  in der es heißt:
"Einerseits nahm die Spreizung der Löhne und Gehälter seit 1995 drastisch zu (...). Andererseits erhöhte sich die Anzahl der Haushalte ohne jedes Erwerbseinkommen auf 19 Prozent - den höchsten Wert innerhalb der OECD. (...) [Sozial]Transfers sind weniger auf Personen mit geringeren Einkommen zielgerichtet als in anderen Ländern."
Nachhaltigkeit in der Praxis: Entwicklungspolitik
Nach den Anfang April 2011 von der OECD vorgelegten Zahlen ist die öffentliche Entwicklungshilfe Deutschlands trotz eines leichten Anstiegs im Jahr 2010 nicht in dem Maße gestiegen, wie es der Stufenplan der Europäischen Union verlangt. Sie betrug 12,723 Milliarden US-Dollar, 2009 waren es 12,079 Milliarden gewesen. Der Anteil der Entwicklungshilfe am Bruttonationaleinkommen stagniert mit 0,38 Prozent auf dem Stand von 2008. Zwischenzeitlich war die Quote 2009 sogar auf 0,35 Prozent abgesunken. Deutschland liegt damit in absoluten Zahlen nur noch auf Platz 4 der Geberländer hinter den USA, Frankreich und Großbritannien. 2008 war es noch der zweite Platz gewesen. Mit einer Quote von 0,38 Prozent belegt Deutschland gerade noch den 13. Platz unter den 23 westlichen Geberländern.

Spürbar mehr Geld für Entwicklungszusammenarbeit ist von der derzeitigen Regierung nicht zu erwarten. Im Gegenteil: Laut mittelfristiger Finanzplanung der Bundesregierung sollen die Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit bis 2015 gegenüber 2012 um über eine halbe Milliarde Euro auf 5,798 Milliarden Euro sinken.

Die vorhandenen Mittel werden jedoch künftig im Zuge eines Strategiewechsels umverteilt: Die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit wird künftig gegenüber der multilateraler Arbeit deutlichen Vorrang genießen. Zudem soll die Budgethilfe gekürzt werden. Geplant ist darüber hinaus die Reduzierung der Zahl der Partnerländer von 58 auf 50. Der Kern der konservativ-liberalen Umgestaltung der deutschen Entwicklungszusammenarbeit bildet aber deren engere Anbindung an deutsche Wirtschaftsunternehmen. Dafür wurden die Mittel des BMZ für ‚Entwicklungspartnerschaften mit der Wirtschaft' 2010 bereits um 25 Prozent auf 60 Millionen Euro erhöht.

Defizite gibt es auch bei der Klimafinanzierung. Nach Schätzzungen von terre des hommes und Welthungerhilfe läge der faire Anteil Deutschlands für Klimaschutz und Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel im Süden bei rund 7,6 Milliarden Euro.  Damit müsste Deutschland seine öffentlichen Leistungen für den internationalen Klimaschutz mehr als verdreifachen." Im Vorfeld der Kopenhagen-Konferenz hatte die Bundesregierung zugesagt, von den jährlich 2,4 Milliarden Euro, die die EU zwischen 2010 und 2012 als Anschubfinanzierung für Klimaschutzmaßnahmen in Entwicklungsländern bereitstellt, einen Anteil von 420 Millionen Euro beizusteuern. Gemäß dem Kopenhagen Accord soll es sich dabei um "neue und zusätzliche" Mittel handeln. Diese Zusage hat die Bundesregierung nicht eingehalten. Im Haushalt 2010 waren lediglich 70 Millionen Euro vorgesehen. Im Budgetentwurf 2011 hat die Bundesregierung diese Haushaltstitel sogar komplett gestrichen.

Exemplarisch für die unzureichende Bereitschaft, substantiell zum Klimaschutz beizutragen, war 2010 die Weigerung der deutschen Regierung, an der Yasuni-Initiative Ecuadors teilzunehmen.  Bei dieser Initiative geht es darum, die Erdöl-Lagerstätten im ecuadorianischen Yasuni-Nationalpark im Amazonasbecken nicht auszubeuten und statt dessen Kompensationszahlungen zu leisten, die mit 1,5 Mrd. US-Dollar etwa bei 50 Prozent der zu erwartenden Erlöse durch den Verkauf des Öls liegen. 

Ausblick
Als Reaktion auf die globale Wirtschafts- und Finanzkrise und im Vorfeld der Rio-Folgekonferenz 2012 gewinnt die Auseinandersetzung über nachhaltige Entwicklung in Deutschland an Dynamik. In diesem Zusammenhang hat der Bundestag im November 2010 die Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität - Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft" eingesetzt. Sie soll "den Stellenwert von Wachstum in Wirtschaft und Gesellschaft ermitteln, einen ganzheitlichen Wohlstands- und Fortschrittsindikator entwickeln und die Möglichkeiten und Grenzen der Entkopplung von Wachstum, Ressourcenverbrauch und technischem Fortschritt ausloten".  Es bleibt abzuwarten, ob von diesem ExpertInnenkreis wesentliche Anstöße für dringend nötige Schritte in Richtung mehr Nachhaltigkeit ausgehen werden.

Quellen:
  1. www.nachhaltigkeitsrat.de
  2. Die Bundesregierung: „Perspektiven für Deutschland. Unsere Strategie für eine nachhaltige Entwicklung“; 2002, www.bmu.de/files/pdfs/allgemein/application/pdf/nachhaltigkeit_strategie.pdf
  3. Peer Review on Sustainable Development Policies in Germany, S.15, www.nachhaltigkeitsrat.de/dokumente/studien/studien/peer-review-report-nov-2009/
  4. „Wachstum, Bildung, Zusammenhalt“, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP 17. Legislaturperiode – Entwurf - S.17ff, www.cdu.de/doc/pdfc/091024-koalitionsvertrag-cducsu-fdp.pdf
  5. http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2010/10/2010-10-01-energiekonzept-bt.html
  6. http://www.bundesregierung.de/Content/DE/StatischeSeiten/Breg/Energiekonzept/energiekonzept-final.html, S.18
  7. www.zeit.de/2010/30/Atomausstieg
  8. www.tagesschau.de/inland/solarkuerzung100.html
  9. www.heise.de/tp/blogs/2/149246
  10. http://www.umweltrat.de/SharedDocs/Downloads/DE/02_Sondergutachten/2011_Sondergutachten_100Prozent_Erneuerbare_KurzfassungEntscheid.pdf
  11. http://www.bundesregierung.de/nn_1021804/Content/DE/StatischeSeiten/Breg/Energiekonzept/07-energiewende-beschleunigen.html
  12. Diakonie, „Sachgerechte Ermittlung des Existenzminimums“, S.1 www.diakonie-portal.de/presse/zum-herunterladen/Kurzuebersicht%20Diakonie-Studie.pdf/at_download/file
  13. www.bundesregierung.de/nn_774/Content/DE/Magazine/01MagazinSozialesFamilie/03/s-c-bildungspaket-fuer-kinder.html
  14. Growing Unequal?“, Summary: http://www.oecd.org/dataoecd/45/42/41527936.pdf, (English); Country Note Germany www.oecd.org/dataoecd/45/27/41525386.pdf (German).
  15. http://www.tdh.de/content/presse/pressemeldungen/detail.htm?&view=detail&id=343&year=2011
  16. http://www.bundesfinanzministerium.de/nn_124500/DE/Wirtschaft__und__Verwaltung/Finanz__und__Wirtschaftspolitik/Bundeshaushalt/Bundeshaushalt__2012/16032011-Eckwertebeschluss,templateId=raw,property=publicationFile.pdf, S.81

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