Donnerstag, 9. März 2017

Seit über 15 Jahren Vertreibung - Stimmen aus Susiya

 Ein Gastbeitrag von Ina Zeuch
aus dem Hügelland südlich von Hebron (South Hebron Hills).




Noch bevor ich mich als EA beworben hatte und ohne je vorher in Palästina gewesen zu sein, hatte ich schon den Namen Susiya gehört (2), (3). Susiya ist eine Hochburg des friedlichen Widerstands, die es innerhalb der letzten zehn Jahre geschafft hat, international wahrgenommen zu werden. Für den 26. Februar 2017 war ein Gerichtsurteil über die Zerstörung der Gemeinde erwartet wurden, seither wird der Termin immer wieder verschoben.

Die Gemeinde Susiya existierte bereits vor der Gründung des Staates Israel. Die Menschen lebten in ausgebauten Höhlen, bestellten ihre umliegenden Felder und lebten von der Viehhaltung. Nach der Besetzung des Westjordanlands blieb es zunächst ruhig in diesem Teil der South Hebron Hills. 1983 entstand nur wenige Kilometer entfernt die israelische Siedlung Susya. In der Nähe des palästinensischen Dorfes begannen die Ausgrabungsarbeiten an einer historischen Synagoge. 1986 wurde der Ausgrabungsort zum Nationalpark erklärt und die Bewohner von Susiya aus ihren Höhlen vertrieben. Ein Teil der Vertriebenen zog nach dem heutigen Susiya um, gerade einmal drei Kilometer weiter auf der anderen Seite der Straße den Hügel hinauf – in Sichtweite zu ihrem ehemaligen Wohnort. Mit dem Osloer Friedensvertrag wurde ihre neue Heimat zur Area C erklärt. (Damit ist das Gebiet - wie 62 Prozent des Westjordanlands - unter vollständiger israelischer Kontrolle.) Obwohl die Bewohner von Susiya mit Dokumenten belegen können, dass sie die rechtmäßigen Besitzer ihres Landes sind, erkennt Israel die Gemeinde nicht an, da die Gebäude über keine israelische Baugenehmigung verfügen. Diese können sie jedoch auch nicht erhalten, da ihr Land nicht für palästinensische Bebauung zugelassen ist. Nur ein Prozent der C-Gebiete ist für palästinensische Bebauung zugelassen.

In zwei Wellen von Abrissen – 2001 und 2011 – erfolgte der erneute Versuch, die Bewohner von ihrem neuen Domizil zu vertreiben. Seitdem gab es immer wieder Zerstörungen von einzelnen Gebäuden – Schafställen, Toiletten und auch von Wohnzelten. Einige Bewohner haben bereits vier Räumungen erlebt. Schließlich brachten die Bewohner von Susiya ihren Fall mit Hilfe israelischer Organisationen vor den Obersten Gerichtshof Israels. Während Susya sich zu einer Siedlung mit einem Masterplan entwickelte, samt Ausbau der Infrastruktur wie Zugang zu Strom und Wasser, Straßennetz, Gesundheitszentren, Schulbussen etc., wurde der Antrag für einen solchen Masterplan für die Bewohner des palästinensischen Susiya abgelehnt. Sie leben bis heute ohne Anschluss an das Strom- oder Wassernetz und geben z.B. etwa ein Drittel ihres geringen Einkommens für Wasserlieferungen aus.


Am 26. Feburar sollte die endgültige Entscheidung über die Räumung Susiyas fallen, sie wurde jedoch wieder verschoben. In der Zwischenzeit treffen im Dorf Vertreter von TV-Sendern, eine Delegation deutscher Journalisten sowie einige Gruppen wie International Solidarity Movement (ISM), Christian Peacemaker Teams (CPT), Breaking the Silence und natürlich auch wir von EAPPI ein. Schon einige Tage zuvor hatten wir Bewohner zur gegenwärtigen Situation und der drohenden Räumung interviewt.

Ahmad Nawaja

Ahmads Haus in Susiya soll geräumt werden, weil es angeblich neu gebaut wurde; für ganz Susiya gilt ein Baustopp, deshalb darf nicht die kleinste bauliche Veränderung vorgenommen werden. Ahmad erklärt uns, dass es kein neues Haus, sondern nur neu angestrichen sei. Er hält den Grund für die neuerliche Räumung für einen Vorwand. Er hat bereits vier Räumungen erlebt. “Wir können in jeder Situation leben. Wir fangen einfach wieder neu an“, erklärt Ahmad kategorisch. Er wurde 1961 in Old Susiya geboren. “Ich bin mit Eseln zur Schule geritten. Unser Leben war immer hart, aber wir geben nicht auf. Leider kann alles, was wir nach dieser Räumung neu aufbauen, wieder geräumt werden. Es ist automatisch illegal. Wir haben keine Möglichkeit, das erneut zu verhandeln. Sie (die israelischen Behörden, Anm.d.Autorin) brauchen dafür keine neue Demolition Order mehr verfügen. Sie können jederzeit räumen.“

Die israelische Siedlung kann man von seinem Haus aus sehen. Sie wird von allen hier als größte Bedrohung empfunden. Ihr Bau begann damals mit einem Container und einem Wassertank. “1986 begann das Militär, uns von Old Susiya zu vertreiben. Wir lebten damals überwiegend in Höhlen. Dann kamen die Zäune und Militärposten. Danach haben wir hier wieder unsere Hütten und Zelte aufgebaut. Der High Court hat damals dem Aufbau von Susiya an dieser Stelle zugestimmt, derselbe High Court, der jetzt die Räumung durchgewunken hat. Das ist absurd. Wir verstehen das nicht.“ “Vier von uns wurden von israelischen Soldaten getötet, ohne dass sie gewalttätig waren. Wir wissen nicht, wie das auf die junge Generation wirkt, ob sie weiter gewaltfrei auf diese Situation reagieren wird.“ “Es ist kein arabisch – jüdisches oder religiöses Problem“, fährt er fort. “Es ist die Besatzung, die Apartheid….Es gibt Stimmen in der israelischen Politik, die sagen: Vertreibt alle Palästinenser aus Area C in die A-Gebiete. Dort sollen wir dann zusammengepfercht leben. Das Problem ist, dass wir in der israelischen Regierung keinen Partner für den Frieden haben. Wir brauchen dringend internationale Unterstützung.“

Mohammed Khalil Nawaja


Mohammed Khalil Nawaja lebt bereits sein ganzes Leben in Susiya. Zuletzt wurde er 2016 geräumt, davor 2015. Er wohnt hier mit seiner Familie von 15 Mitgliedern. Immer ist er danach woanders hin- gezogen, mal weiter den Hügel hinauf, mal weiter herunter. Jetzt will er nicht mehr herumziehen. “Ich bleibe hier und baue meine neue Unterkunft wieder aus den Trümmern auf. Es ist egal, wo wir hinziehen. Die Räumung folgt uns auf dem Fuße. Deshalb werde ich genau hier wieder mein neues Heim für meine Familie bauen. Wir werden zwischen den Siedlern und dem Militär zerrieben. Dort, wo Militärzonen entstehen, entsteht irgendwann neues Land für die Siedler. Die Armee schützt sie dabei. Niemand schützt uns, selbst wenn wir von den Siedlern auf unserem eigenen Land angegriffen werden“, sagt er verbittert. “Sie (die Siedler, Anm. der Autorin) haben doch ein so gutes Leben! Warum wollen sie meine kleine Existenz hier zerstören? Warum darf ich keine Zisterne bauen? Warum dürfen meine Schafe nicht in der Nähe von ihrer Siedlung, die illegal erbaut ist, weiden? Ich bleibe hier, ich lasse mich nicht zum Flüchtling machen.“

Mariam

Mariam, die nicht fotografiert werden möchte, lebt seit 17 Jahren hier in Susiya. Ursprünglich kommt sie aus Yatta. Sie kam nach ihrer Heirat hierher, ihr Ehemann hatte zuvor in Old Susiya gelebt. Sie leidet unter den schlechten Verhältnissen hier. Ihre Hütten werden bei Regen oft überflutet. Auch hier soll alles geräumt werden. Sie weiß nicht, was danach sein wird.

“Ich gehe mit dem, was die anderen machen. Wenn sie bleiben, bleibe ich auch.“ Auch sie hat 2001 schon einmal eine Räumung erlebt. “Zu dieser Zeit war ich beim Arzt in Yatta und blieb über Nacht. Als ich zurückkam, war alles zerstört. Die Bulldozer haben am frühen Morgen alles platt gemacht. Das war ein Schock. Um vier Uhr morgens haben sie Nasser Nawaja verhaftet. Ein Siedler war getötet worden und sie haben aus Rache einfach irgendjemanden verhaftet. Er kam einen Tag später wieder frei. Sie hätten auch jeden anderen verhaftet. Sie haben sich einfach den geschnappt, der ihnen gerade über den Weg lief. Und danach kam die Räumung. “

Während sie erzählt, weint ihr kleiner einjähriger Sohn ununterbrochen. “Die Siedler kamen zuletzt während des Ramadan und bedrohten uns, warfen mit Steinen nach uns und vertrieben unsere Schafe. Mein jüngster Sohn hat deshalb ständig Angst, wenn wir fremden Besuch bekommen. Deshalb weint er auch jetzt die ganze Zeit“, erklärt sie. Mariam hat fünf Kinder, ihr ältester Sohn ist 16 Jahre alt. Die Siedler kommen in unregelmäßigen Abständen, um sie einzuschüchtern. “Einmal kamen sie sogar in unser Haus, als wir – mein Mann und ich – auf dem Feld waren. Das hat mich sehr erschreckt.“

Mohammed Nasser Al Nawaja

Mohammed Nasser Al Nawaja wurde 1946 geboren. “Ich bin ein Kind der Naqba. 1948 wurden wir zum ersten Mal vertrieben. Wir mussten die Zeche für den Holocaust bezahlen. 2012 war ich in Berlin, ich habe mir das Holocaust-Denkmal angeschaut. Ich finde es schrecklich, was passiert ist. Aber was uns passiert ist und immer noch passiert… wer wird unser Denkmal einmal besuchen?“, sagt er eingangs bei unserem Interview. „Das Problem ist, dass hier so viel Geschichte passiert ist. Es gibt die römische, christliche, arabische und jüdische Geschichte. Aber was auch immer hier an archäologischen Funden entdeckt wird, die Israelis reklamieren alles für sich. Die ursprüngliche Synagoge wurde auch über eine lange Zeit als Moschee genutzt, aber wir haben hier anscheinend kein Anrecht auf unsere Geschichte.“

Er berichtet weiter: “Als wir hier wieder neu angefangen haben, haben wir Wasser und Elektrizität installiert. Wir brauchen dafür nicht bei der Israelischen Autorität um einen Masterplan bitten, denn das ist unser Land, so dachten wir damals. Jetzt soll alles illegal erbaut worden sein. Wie kann das sein? Nach dem illegalen Siedlungsbau kamen Militär und Polizei hierher und fragten nach unserer Bauerlaubnis. Mein Sohn wurde in seiner Wohnung in Yatta aufgesucht. Yatta ist Area A! Wie kommen sie dazu, meinen Sohn dort zu belästigen? Unser Leben war immer hart, auch in Old Susiya. Schon damals haben wir davon geträumt, dass unser Leben einmal leichter werden würde. Aber es ist alles immer nur schlimmer geworden. Ich glaube nicht daran, dass der High Court am 26. Februar gegen die Räumung entscheiden wird. Wir haben keine Chance. Trotzdem bleibe ich hier. Ich gehe nirgendwo hin. Wohin sollte ich auch gehen?“

Mahmud, Hiem und Olah Nawaja

Mahmud Nawaja ist 36 Jahre alt und lebt schon immer hier. Er hat zwei Frauen. Auch sein Haus und die Schafställe sollen geräumt werden. Vor zwei Monaten gab es die letzten Angriffe von Siedlern auf seine Familie. Olah, seine zweite Frau fürchtet am meisten, dass sie vielleicht wirklich von hier weg und Susiya hinter sich lassen müssen. Hiem, seine erste Frau, sagt: “Ich muss immer an die gerichtliche Entscheidung denken, die ja noch nicht ganz feststeht. Ich bete dafür, dass sie uns nicht räumen. Gestern (20.1.17) um 23.30 Uhr kam Militär hierher und um 9.30 heute morgen kamen Drohnen, um Fotos zu machen. Meine kleine Tochter hat sie mit Steinen beworfen und das Victory-Zeichen gemacht. Sie ist fünf Jahre alt!“

„Selbst wenn die gerichtliche Entscheidung für uns ausfällt, sind da immer noch die Siedler. Sie werden weiterhin versuchen, uns zu vertreiben.“, sagt Olah.

Samiha Nawaja


Samiha wurde im April 2012 von sieben vermummten Siedlern angegriffen und schwer verletzt. Mit einer Metallstange wurde sie bewusstlos geschlagen. Die Ambulanz kam nicht zu ihr durch, weil sie keine Erlaubnis für Area C hatte. Zu diesem Vorfall hat ihre Familie eine Beschwerde bei der Israelischen Zivilverwaltung eingereicht, bislang ohne Ergebnis. “Wenn wir geräumt werden, ist die Erde unsere Matratze und der Himmel unsere Decke“, sagt sie prosaisch. Sie wünscht sich, einen Computer zu haben, mit dem sie ihre Stimme in die ganze Welt hinaustragen und über die Zustände hier informieren und um Hilfe bitten könnte. Auch sie will nach der Räumung Susiya nicht verlassen.

Abed Nawajja


Abed Nawaja wurde in Old Susiya in einer Höhle geboren. Inzwischen wohnt er mit seiner eigenen Familie in Yatta, aber ein Großteil seiner Verwandten lebt hier in Susiya. “1997 wurde hier in Susiya ein Schafhirte von einem Siedler erschossen, ich habe das damals miterlebt. Er erschoss erst einige Schafe und als der Farmer hinzukam und ihn anschrie: ‘Bist du verrückt? Was machst du da?‘ antwortete er: ‘Du glaubst, ich bin verrückt? Ich zeig dir, wie verrückt ich bin‘ und schoss ihn nieder“, erzählt uns Abed Nawaja. Das war das schlimmste Ereignis in seiner Kindheit. Einem Großteil seiner Familie steht nun die Räumung bevor.

Er steht auf dem Grab des erschossenen Schafhirten. Dessen Frau war nach dem Tod ihres Mannes mit ihren Kindern nach Yatta gezogen. Vor zwei Jahren ist sie gestorben und ihr Sohn, Iman Jibreen Nawaja, ist 2014 wieder nach Susiya gezogen. Auch er hat eine Zerstörungsanordnung. “Für mich gibt es keine letzte gültige Entscheidung. Wenn der High Court gegen uns entscheidet, bringen wir unsere Sache vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Wenn ich aufhöre, gegen die Räumung von Susiya und unsere Vertreibung zu kämpfen, werden meine Söhne weitermachen. Und wenn wir endlich einen Masterplan für uns erkämpft haben, kehre ich nach Susiya zurück.“

Diana


Diana ist die einzige, die, wenn Susiya tatsächlich zerstört wird, nicht mehr hier leben möchte. “Ich möchte keine Angst mehr vor den Siedlern haben müssen. Ich will hier weg, wenn wir wieder geräumt werden. Ich möchte nicht, dass das Militär ständig meine Familie bedroht und unser Haus räumt. Ich möchte Journalistin werden, um meinem Land zu helfen, damit alle erfahren, was hier los ist.“

Der Beitrag ist zuerst im Netzerk des Ökumenischen Begleitprogramms in Palästina und Israel (EAPPI) erschienen.

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