Buddhistische Pilgerstätte und christliche Mission -
eine Reportage von Ina Zeuch
Bodhgaya ist eine der heiligsten Pilgerstätten der Buddhisten. Der Ort liegt in Bihar, einem der ärmsten indischen Bundesstaaten. Hier erlangte Buddha der Überlieferung nach unter dem berühmten Bodhibaum die Erleuchtung und fegte damit ganz nebenbei das hinduistische Kastensystem und sämtliche seiner Götter hinweg. Denn nun konnte jedeR durch Meditation zur Erleuchtung erlangen und musste die Verdienste nicht mehr durch zahllose Wiedergeburten im Kastenwesen anhäufen. Von Oktober bis März fallen hier buddhistische Pilger aus ganz Asien und dem Westen ein. Armut und Reichtum treffen hier in geradezu obszöner Weise aufeinander. Touristenbusse der Luxusklasse verstopfen die engen Straßen und entlassen Ströme von Menschen in die Tempel, Cafés, Shops und Restaurants, die - umringt von zahlreichen Bettlern und Leprakranken - hauptsächlich zu den Klöstern pilgern. Entsprechend rasant verläuft auch der Bauboom insbesondere bei den Hotels, von denen einige selbst wie Tempel anmuten. In Bodhgaya haben sämtliche buddhistischen Religionsgemeinden von Japan bis Tibet buddhistische Klöster erbaut, die ohne Eintritt von allen besichtigt und teilweise auch genutzt werden können.
Tibet, als annektierte Provinz Chinas und des Westens liebstes exotisches Kind, erbaut derzeit ein viertes Kloster und ein vietnamesischer Mönch erzählt mir stolz, während er den indischen Kellner herumscheucht, dass bald auch sein Land ein zweites und hoffentlich bald auch ein drittes Kloster bauen wird - alles finanziert von Spendengeldern. Entsprechend blüht der Devotianalienhandel, der überwiegend von tibetischen Händlern betrieben wird: Klangschalen, tibetische Gebetsfähnchen, Malas, Glöckchen, Räucherstäbchen, Mantra-CDs, Videos vom Dalai Lama und vieles mehr.
Doch mitten in diesem lukrativen Religionsbusiness befindet sich eine äußerst bescheidene, christliche Missionsstation - ein Waisenhaus mit Grundschule, wo für 60 Kinder, darunter 35 Mädchen, gesorgt wird.
Typisch ist die Geschichte Rahuls (Name geändert). Er wurde, als er fünf Jahre alt war, von seinem Onkel zusammen mit seiner dürftigen Habe auf dessen Farm mitgenommen. Von da an schuftete er in der Landwirtschaft seines Onkels, vielleicht um die Schulden seines Vaters abzutragen, der bis heute krank und inzwischen arbeitsunfähig ist. "Ich glaube, die Familie meines Vaters war mit der meines Onkels verfeindet", sagt Rahul resigniert. Inzwischen unterstützt der Onkel seine Eltern und seine drei weiteren Geschwister. Aber damals wäre Rahul fast verhungert. Irgendwann lief er einfach weg. Seit zehn Jahren lebt er in Bodhgaya in der Elizabeth Orphanage and School und lehrt - während er gleichzeitig seine eigene Ausbildung absolviert - die Kinder Hindi. Denn in Bihar wird Bihari gesprochen, und Kenntnisse in Hindi sind wichtig, um später auch in wohlhabenderen Gegenden Indiens weiterzukommen.
Rahul's Schicksal ist nur eines von vielen. Nicht alle sind Waisenkinder. Viele wurden von ihren Eltern verlassen oder von ihnen misshandelt und liefen schließlich weg. Waisenkinder dagegen landen - wenn sie aus armen Verhältnissen kommen - fast automatisch auf der Straße.
Bihar ist das Armenhaus Indiens mit der höchsten Analphabetenrate, der höchsten Kindersterblichkeit und der höchsten Bevölkerungsdichte des ganzen Subkontinents. Hauptsächlich lebt Bihar von einer immer noch feudal strukturierten Landwirtschaft. "Aber seit einem Jahr hat es hier nicht geregnet", erzählt Rahul. Das Flussbett unterhalb der Felsenkette, wo Buddha sich - damals noch als hinduistischer Asket - für sechs Jahre in eine Höhle zurückzog, ist komplett ausgetrocknet. Die unmittelbar daran angrenzenden Reisfelder, die vom Fluss überflutet werden müssen, um zu gedeihen, lassen erahnen, welche Katastrophe diese Versandung bedeutet. Wer hier abseits der Straßen über Land fährt und in die Dörfer kommt, sieht viele ausgemergelte Menschen. Sichtbar leiden Kinder und alte Menschen am meisten.
Ein Waisenhaus, das auch Grundbildung anbietet, geht die Probleme Bihars auf direktestem Wege an. Andererseits waren Armut und Unterentwicklung schon immer ein guter Nährboden für Missionsarbeit und alles zusammen konstante Begleiterscheinungen jedweder Kolonialisierung. Aber angesichts der erdrückenden Fakten ist man wenig geneigt, diese altbekannte Liaison zu verurteilen.
Die Kinder werden von aktiven Gemeindemitgliedern der Elizabeth-Einrichtung auf den Dörfern der Umgebung aufgesucht. Hinweise kommen von den Dorfbewohnern, die sie auf verwahrloste Kinder und Waisen aufmerksam machen. Auch misshandelte Kinder in Familien sind bekannt. Nach der getroffenen Auswahl und mehreren Besuchen werden sie schließlich auf die Missionsstation gebracht - mit ihrem Einverständnis und auch mit dem Einverständnis der meist überforderten, völlig verarmten Eltern. Niemand von ihnen will jemals wieder zurück, erklärt mir Rahul entschieden, obwohl er selbst inzwischen seine Familie wieder besucht. Die Altersgrenze für die Aufnahme im Waisenhaus liegt bei ungefähr 12 Jahren, sofern sich das Alter der Kinder ermitteln lässt. Hier werden sie in christlichem Sinne erzogen. In den bisher zwei angemieteten Räumen ist alles ausgesprochen ärmlich eingerichtet. So gibt es zum Beispiel im winzigen Schlafsaal keine Matratzen, sondern nur Holzbretter, die zum Bau von Betten vorgesehen sind. Bislang werden sie vor dem Schlafengehen ausgelegt und verhindern so, dass die Kinder auf dem nackten Zementboden liegen müssen.
Die Einrichtung lebt von Spenden und dem Gehalt des Pastors. Eine staatliche Förderung gibt es nicht, auch kein Spendenkonto. Geldspenden werden bar eingezahlt, quittiert und in einer Kasse verwahrt. Nach einer Sitzung mit allen regelmäßigen freiwilligen Helfern wird beratschlagt, in welcher Weise das Geld ausgegeben werden soll. Die Kinder erhalten drei Mahlzeiten, die Frau des Pastors betreut die Kinder während der Unterrichtspausen. Unterricht findet morgens und nachmittags statt. Der Tag beginnt und endet mit einem Gottesdienst.
Christen, Muslime und Sikhs sind religiöse Minderheiten in Indien, und die Präsenz der Christen ist hier in Bodhgaya kaum wahrnehmbar. Am dominantesten sind aufgrund des Bodhibaumes und der vielen Klöster hier natürlich die Buddhisten, die jedoch eigentlich prozentual die kleinste religiöse Gruppe in Indien stellen. Unter ihnen fallen vor allem die tibetischen Mönche auf. Die meisten von ihnen leben dauerhaft hier und im Zuge dessen gibt es auch viele tibetische Geschäftsleute, die bereits eine blühende ethnische Ökonomie aufgebaut haben. Der Klerus aber lebt hier - wie überall in Indien - ohne sichtbare Arbeit zu leisten wie die Made im Speck. Und die Mönche zeigen das ganz unverhohlen. Wohlgenährt sitzen sie in großen Gruppen in den besseren Restaurants, meistens den tibetischen, telefonieren mit ihren Smartphones und belagern die Rikschas auf ihren kurzen Wegen vom Kloster zur Mahabodhi Society.
Vor allem die jungen Biharis, viele von ihnen arbeitslos, erbittert das zutiefst. Sie verurteilen den Buddhismus als Heuchelei, bei der es nur ums Geld gehe. Rahul erzählt, dass die tibetischen Residents in den Sommermonaten, wenn viele Geschäftsinhaber und der wohlhabende Mittelstand der Region entfliehen, indische Geschäfte zerstören und mit der Hilfe korrupter Polizei dort ihre eigenen Geschäfte aufbauen, bevor die Inder aus dem Urlaub zurückkommen. Das sind natürlich nur Gerüchte, aber sie belegen den Hass, der hier gegenüber den Tibetern herrscht, die innerhalb kürzester Zeit zu Wohlstand kommen.
Eine andere Art von Gewalt zeigt sich in den traditionellen, hinduistischen Dörfern in Bodhgaya's Umgebung. Dort wurde vor sechs Jahren das Elizabeth Orphonage and School, damals noch zwei Kilometer außerhalb von Bodhgaya, von Dorfbewohnern niedergebrannt. Danach zog die Gemeinde in die Stadt. Der Pastor Nakul Dev, der die Station wie einige andere in den umliegenden Dörfern leitet, hat sie bei der Polizei registrieren lassen. Christliche Missionsarbeit gibt es hier bereits seit 20 Jahren. Seit sie hier in einer engen Gasse mitten unter den Leuten arbeiten, gibt es nur noch gelegentlich Übergriffe.
Doch von Toleranz ist die hinduistische Nachbarschaft noch weit entfernt - ganz zu schweigen von tätiger Mitarbeit oder Sachspenden, von denen schon ein Kilo Reis willkommen wäre. Das Haus, in dem das Waisenhaus Unterschlupf gefunden hat, befindet sich größtenteils noch im Rohbau. Die Kochstelle - ein zwei-Platten-Gasherd - und einiges Metallgeschirr sind zur Zeit in einer Ecke des Flurs im Erdgeschoss, untergebracht. Denn in der als Küche geplantem Raum lebt derzeit noch der Vermieter und überwacht die Bauarbeiten. In der Zwischenzeit nimmt er bereits Miete ein. Aber er lässt sich ab und an herbei, sich zum Tee einladen zu lassen, und so könnten vielleicht erste zarte Bande für eine bessere, vielleicht sogar eine unterstützende Nachbarschaft angeknüpft werden.
Montag, 2. April 2012
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen