Mittwoch, 10. Mai 2017

Eine andere Perspektive

Filmvorführung mit den Combatants for Peace in Susiya
Ein Gastbeitrag von Ina Zeuch
aus dem Hügelland südlich von Hebron (South Hebron Hills).


Am 1.Mai gedachten die Menschen in Israel im Rahmen des „Memorial Day“ der israelischen  Opfer von Kriegen und Terror. Am Vorabend fanden sich Israelis und Palästinenser*innen in einem Basketballstadion in Tel Aviv zusammen, im Gedenken an die Opfer beider Seiten und als Zeichen der Hoffnung auf Versöhnung und Frieden. Zum 11. Mal in Folge hatten die „Combatants for Peace“ und das „Parents Circle – Families Forum“ diese gemeinsame Gedenkveranstaltung organisiert. Auch 225 Palästinenser*innen aus der Westbank hatten an der Zeremonie teilnehmen wollen. Die israelischen Behörden verweigerten ihnen jedoch die Einreise.

Im März lernten wir während unseres Trainings in Jerusalem zwei Mitglieder der Combatants for Peace kennen. Die aus ehemaligen israelischen Soldat*innen und früheren palästinensischen Kämpfer*innen bestehende Gruppe ist vor kurzem für den Friedensnobelpreis nominiert worden. Nach einem beeindruckenden Vortrag über ihre Friedensarbeit erfahren wir, dass auch in unserem Einsatzort Yatta ein Mitglied der Combatants for Peace lebt, mit dem wir unmittelbar nach der Veranstaltung Kontakt aufnehmen. Schnell entsteht die Idee, dass wir den über die Gruppe gedrehten Dokumentarfilm “Disturbing the Peace“ (IMDB 8.8), der im März 2016 in den USA erstaufgeführt wurde, in den South Hebron Hills zeigen könnten.

Nasser Nawaja, lokaler Mitarbeiter der israelischen Menschenrechtsorganisation B‘Tselem und einer unserer wichtigsten Kontakte schlägt vor, den Filmabend in seinem Dorf Susiya zu veranstalten und alle Bewohner dazu einzuladen. Die Vorstellung, dass mehrfach vertriebene Palästinenser*innen, die die Auswirkungen der Besatzungspolitik so hautnah zu spüren bekommen haben, mit uns diesen Film ansehen könnten, der zur Versöhnung und zum Frieden aufruft, wirft bereits im Vorfeld eine Debatte auf. In Susiya stehen die Menschen der Idee eher ablehnend gegenüber, so berichtet uns Nasser. Er fürchtet, dass der Film eine ganze Reihe von Bewohner*innen wegen der vorkommenden Gewaltszenen tief verstören könnte. Schließlich sitzen einige von ihren Angehörigen immer noch im Gefängnis oder haben Freunde und Verwandte bei Einsätzen des israelischen Militärs verloren.



Nach einigem Hin und Her fällt die Entscheidung kurz vor dem Event: Der Film wird in Susiya gezeigt. Am 18. April ist es so weit. Wir fahren mit unserem Nachfolge-Team, das vor kurzem eingetroffen ist, zum improvisierten Kinoevent. So können wir die Kolleg*innen gleich in die Situation vor Ort einführen, mit dem archäologischen Park in Old Susiya, der israelischen Siedlung und dem Außenposten in unmittelbarer Sichtweite vom Dorf – ein konkretes Stück Besatzungsgeschichte.

Nach einiger Zeit des nervösen Wartens sehen wir endlich eine Autokolonne die Schotterstraße nach Susiya herauffahren: Es ist die Ankunft der Combatants for Peace mit dem ganzen Equipment, das für eine Filmvorführung nötig ist.

In dem kleinen Versammlungszelt wird es nun eng. Eine ganze Reihe Männer und wir sind schon da, zum Schluss kommen dann noch die so oft bei öffentlichen Ereignissen vermissten Frauen mit ihren Kindern hinzu. Während der Vorführung sehe ich in betroffene, aber auch ablehnende und wütende  Gesichter. Ein älterer Mann verlässt nach der Hälfte des Films das Zelt, mit ihm folgen einige andere Männer und auch ein paar der Frauen.

Mehr als ein halbes Jahrhundert Geschichte wird in dem Dokumentarfilm erzählt: Die Vertreibung und Ermordung der Juden, der Holocaust, die Staatsgründung  Israels und  Szenen der Freude, mit denen Israelis ihre neugegründete Nation enthusiastisch auf den Straßen feiern. Dann folgt  die lange Reihe der  Kriege und Gegenangriffe, die zur israelischen Besatzungspolitik führten und schließlich zum Bau der Trennbarriere, die so tief in palästinensisches Land einschneidet.

Am meisten beeindrucken aber die persönlichen Berichte der Combatants for Peace. Denn das ist das Konzept der Gruppe: Beide Seiten – israelische Ex-Militärs und ehemalige palästinensische Widerstandskämpfer – kommen zusammen und reden miteinander. Sie treten ein für ein Ende der Gewalt und wollen ein Zeichen dafür setzen, dass selbst die größten Feinde in der Lage sein können, sich für eine gemeinsame Zukunft in Gerechtigkeit und Frieden einzusetzen.

Sie ergänzen die jeweils andere Perspektive  des Konflikts und alle zusammen haben sie eine Kehrtwendung vollzogen. Sie bezeichnen sich als ‘Refusniks‘.  Sie verweigern sich der Narrative, in denen sie sozialisiert wurden und die sie in einseitige, oft gewaltbereite Biografien getrieben haben. Ex-Kombattanten auf beiden Seiten haben eine Katharsis erlebt, die sie im Film berichten und haben zueinander gefunden – teils unter großen Schwierigkeiten, persönlichen Risiken und der Gefahr, ihr soziales Umfeld zu verlieren.

Die anschließende Diskussion wird von Suliman al-Khatib geleitet, der selbst im Film vorkommt und der vier Jahre in israelischen Gefängnissen verbracht hat. Auch Mohamed Owedah, ehemaliger palästinensischer Kämpfer der zweiten Intifada und Chen Alon, Ex-Offizier der israelischen Armee,  kommen in der Dokumentation vor und sind mit einigen anderen angereist.

Die Debatte beginnt mit dem Thema Holocaust. Die Palästinenser seien nicht schuld an diesem Verbrechen, müssten aber bis heute dafür büßen, sagt einer der Bewohner aus Susiya. Der Film sei nicht ausgewogen, so die Hauptkritik der meisten Anwesenden – so wenig ausgewogen wie der ungleiche Kampf der Palästinenser gegen ein hochgerüstetes Militär und eine immer restriktivere Besatzungspolitik.  Sie wollten ja den Frieden, aber für Israel käme ein Frieden mit den Palästinensern nicht mehr vor, vielmehr seien Sicherheit, Abschottung und  Terrorbekämpfung die Leitlinien der israelischen Politik.

Die Combatants for Peace kennen diese Argumente bereits. Bei  jeder Vorführung – ob in Israel oder hier in den besetzten Gebieten – würden sich alle immer für den Frieden aussprechen und dann auf die jeweils andere Seite verweisen, die diesen Frieden verhindere. Ein Film zum israelisch-palästinensischen Konflikt könne niemals ausgewogen sein. Er sei vielmehr als Anlass zu Diskussion gedacht. Der Film zeige, dass es Opfer auf beiden Seiten gibt und mache dabei keine ‘bodycounts’, also keine Vergleiche zwischen den Opferzahlen auf der einen oder der anderen Seite. Gleichzeitig werden die Combatants for Peace in ihren politischen Forderungen sehr deutlich: Ein Ende der Gewalt auf beiden Seiten und ein Ende der Besatzung, als Grundlage für einen gerechten Frieden.

Zum Schluss die entscheidende Frage: Können die wenigen Mitglieder von Combatants for Peace – gemessen am israelischen Mainstream und der Unterstützung der israelischen Politik durch internationale Geldgeber wie die US-Regierung – tatsächlich Einfluss auf die Politik nehmen? Werden sie die Aufhebung der Besatzung vorantreiben können?

“Wir wissen nicht, ob wir das erreichen können“, sagt Suliman.  “Jede Veränderung hat immer mit einer Vision begonnen. Wir sind Visionäre und glauben an den Frieden. Die persönlichen Begegnungen, hier und auf unseren anderen Veranstaltungen können der  Neubeginn in der Biografie eines Einzelnen werden, weil man nicht in  der eigenen Opferhaltung gefangen bleiben muss.  Das ist der Beginn von Frieden zwischen Menschen, die sich vorher als Feinde gegenüber standen. Durch sie erreichen wir vielleicht das Momentum in der Geschichte, das auch in Südafrika zum Ende der Apartheid und in Indien zum Ende der britischen Besatzung geführt hat.“

Beim Verlassen des Zeltes habe ich das Gefühl, dass diejenigen, die bis zum Schluss zugesehen, zugehört und teils mitdiskutiert haben, bereits einiges an Kraft und Überwindung dafür aufbringen mussten. Sie haben damit die Vision der Ex-Kombattanten schon ein wenig verwirklicht, weil sie sich bewusst einer anderen Perspektive gestellt haben, die nicht mit ihrem eigenen Narrativ übereinstimmt.

Der Beitrag ist zuerst im Netzerk des Ökumenischen Begleitprogramms in Palästina und Israel (EAPPI) erschienen.

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