Montag, 20. September 2010

Social Watch 2010

Der Internationale Social Watch Bericht 2010 ist (auf Englisch und Spanisch) erschienen. Titel: "After the Fall - Time for a New Deal". Leider gibt es in diesem Jahr keine deutsche Ausgabe.

Der Beitrag über die soziale Entwicklung in Deutschland stammt wie jedes Jahr von Ihrem/Eurem Blogautor. Er ist hier nachzulesen, kann aber auch heruntergeladen werden (auf Englisch). Wie immer geht es um die Politik, die die Bundesregierung in Hinblick auf die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Menscherechte abliefert und wie immer gibt es einen (größeren) Teil, der sich auf innenpolitische Fragen bezieht und einen entwicklungspolitischen Teil, der die extraterritorialen Staatenpflichten anspricht.

Alle die, die lieber Deutsch lesen,  können unten die deutsche Rohfassung einsehen.

Crisis response of new government neglects poor and the environment
Der Regierungswechsel im Herbst 2009 hat den Armen und von der Finanzkrise getroffenen Menschen in Deutschland bisher keine Vorteile gebracht. Es ist kein Umsteuern in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik erkennbar. Im Gegenteil: Die Verarmung größerer Bevölkerungsschichten geht kontinuierlich weiter.

Trotz der von der Bundesregung ergriffenen Stützungsmaßnahmen für Banken und Industrie (480 Milliarden Euro) und zweier Konjunkturpakete (107 Mrd. Euro) hat die Finanzkrise deutliche Spuren in der deutschen Wirtschaft hinterlassen. Zwar wurden bisher nicht so viele Menschen arbeitslos wie befürchtet, doch die, die Arbeit haben, müssen mit weniger Geld auskommen. Erstmals in der über 60-jährigen Geschichte der Bundesrepublik mussten die ArbeitnehmerInnen im Jahr 2009 Bruttolohneinbußen von 0,4 Prozent (etwa 100 Euro) hinnehmen.[1] Verantwortlich für den Rückgang der rechnerischen pro-Kopf-Verdienste waren hauptsächlich der Ausbau der Kurzarbeit und der Abbau von Überstunden. Besonders stark betroffen war das Verarbeitende Gewerbe. Hier sanken die pro-Kopf-Verdienste um 3,6 Prozent während auf Stundenbasis ein Zuwachs von 4,4 Prozent zu beobachten war.

Weitere Verschärfung sozialer Verhältnisse
"Inzwischen arbeiten 6,5 Millionen Menschen - mehr als jeder fünfte Beschäftigte - für Stundenlöhne unterhalb der Niedriglohnschwelle", heißt es in einem Bericht des Instituts Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen.[2] Auch der Anteil der Beschäftigten mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung, die im Niedriglohnsektor arbeiten (müssen), hat sich deutlich erhöht. Ohne Schulabschluss sind mittlerweile nur noch rund ein Fünftel aller in diesem Bereich Beschäftigten.

Die Verschärfung der Zustände zieht sich durch alle benachteiligten sozialen Gruppen: Mitte 2009 war die Zahl der "Tafel"-Empfänger erstmals auf über eine Million Menschen gestiegen.[3] Die "Tafel" genannten karitativen Einrichtungen gibt es in den meisten deutschen Städten. Sie werden von Lebensmittelspenden des Handels und 40.000 ehrenamtlichen HelferInnen getragen und übernehmen damit die materielle Grundversorgung Bedürftiger - nach dem Verständnis von Social Watch eine zentrale Staatsaufgabe in jedem hoch entwickelten Industrieland. Der Vorsitzende des Bundesverbands Deutsche Tafel ging nicht so weit und forderte nur einen Armutsbeauftragten der Bundesregierung. Dieser müsse jedoch "weit reichende Befugnisse haben, die Aktivitäten der vier für die Armutsbekämpfung zuständigen Bundesministerien[4] koordinieren und als Ansprechpartner für private Organisationen wie die Tafeln oder Wohlfahrtverbände fungieren".

Umwelt kaum Thema
Umweltaspekte haben in den Reaktionen der Bundesregierung auf die Finanzkrise nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Im Gegenteil: Die Konjunkturmaßnahmen waren stark auf den Ausbau des Individualverkehrs konzentriert. Besonders umstritten ist die cash for clunkers - Komponente. Dabei handelte es sich um eine staatliche Einmalzahlung in Höhe von 2.500 Euro, in deren Genuss Halter von älteren PKW kamen - vorausgesetzt, sie schafften einen Neuwagen an und verschrotteten das alte Fahrzeug. Der Verkehrsclub Deutschland (VCD) bemängelte an diesem Konzept, dass man für den Klimaschutz wesentlich mehr hätte erreichen können, wenn man die Prämie an Umweltkriterien gebunden oder das Geld in alternative Verkehrsmittel investiert hätte. Zudem hätte nach Meinung des VCD die Förderung des Öffentlichen Verkehrs, der Nachrüstung von Umwelttechnik höhere Beschäftigungseffekte und eine bessere Umweltbilanz erzielt.[5]

Eine komplette Analyse der in 2009 aufgelegten Konjunkturpakete in Hinblick auf deren Auswirkungen auf die Umwelt hat der World Wildlife Fund (WWF) vorgelegt. Und die Ergebnisse sind ernüchternd: Nur 6 von 32 Maßnahmen hatten laut dieser Studie positive Umwelteffekte. Bezogen auf die Mittelverwendung könnten allenfalls 13 Prozent der Konjunkturmaßnahmen (14,015 Mrd. Euro) als nachhaltig eingestuft werden. Der einzige umweltbezogene Schwerpunkt seien die Investitionen in energetische Sanierungen im Haus- und Wohnungsbereich gewesen. Gänzlich gefehlt hätten "innovative Ansätze zur Verkehrsvermeidung, zur Förderung effizienter Produkte oder ressourcenschonender Produktionsverfahren". Acht Prozent der konjunkturellen Maßnahmen (in Höhe von fast 8,585 Mrd. Euro) schadeten der Umwelt sogar. Auch in den Förderkriterien für die Mittelverwendung seien Umweltaspekte kaum berücksichtigt worden.[6]
Das Recht auf Regelschule für behinderte Kinder wird in Deutschland ignoriert
Anfang 2010 war Vernor Muñoz, der UN-Sonderberichterstatter für das Menschrecht auf Bildung, zu Besuch in Deutschland und kritisierte noch einmal deutlich die Praxis deutscher Schulbehörden, behinderten Kinder - etwa mit Down-Syndrom - zu wenige Plätze in regulären Schulen bereitzustellen. Etwa 400.000 behinderte Kinder (85 Prozent) lernen in Deutschland in Sonderschulen.[A] Eine inklusive Schule aber schreibt die UN-Behindertenkonvention vor, die Deutschland 2007 ratifiziert hat.
Muñoz hatte dem UN-Menschrechtsrat bereits 2007 einen Bericht über seine Mission nach Deutschland vorgelegt, die ein Jahr zuvor stattgefunden hatte. Darin heißt es: "Indeed, the Special Rapporteur believes that the classification process which takes place at lower secondary level (…) does not assess students in an adequate manner and instead of being inclusive, is exclusive; since he could verify during the visit that, for example, poor and migrant children - as well as children with disabilities - are negatively affected by the classification system."[B]
Die Antwort der Bundesregierung auf diesen Bericht umfasst nur wenige Absätze in denen die Kritik nicht inhaltlich aufgegriffen wird: "Für [behinderte Kinder] gilt die Schulpflicht ebenso wie für nichtbehinderte Kinder und Jugendliche. (...) Behinderte Schüler werden entweder in Regelschulen gemeinsam mit nichtbehinderten Schülern oder in Sonder- bzw. Förderschulen unterrichtet."[C] Doch nimmt die Bundesregierung das Thema ernster, als die oben zitierte Stellungnahme vermuten lässt: 2008 wurde das Deutsche Institut für Menschenrechte beauftragt, die Umsetzung der Konvention in Deutschland zu begleiten.[D] Die Finanzierung dieser Arbeit erfolgt durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, und das jährliches Budget der Monitoring-Stelle beträgt derzeit 430.000 Euro.
A: 9. Juni 2009; <www.taz.de/1/zukunft/wissen/artikel/1/menschenrechte-nicht-fuer-den-mond>
B: Human Rights Council, Fourth Session, A/HRC/4/29/Add.3, Report of the Special Rapporteur on the right to education, Vernor Muñoz. Addendum: Mission to Germany (13-21 February 2006), <daccess-ods.un.org/TMP/1589681.html>
C: Bundesministerium für Bildung und Forschung; <www.bmbf.de/de/7763.php>
D: Vgl. <www.institut-fuer-menschenrechte.de/de/monitoring-stelle.html>

Entwicklungspolitik
Das Stufenziel, den Anteil der Entwicklungshilfe (ODA) am Bruttoinlandseinkommen (BNE) in 2010 auf 0,51 Prozent zu steigern, wird voraussichtlich klar verfehlt. Der neue Bundesentwicklungsminister Dirk Niebel sagte bereits Ende 2009 dazu in einem Interview: "Der EU-Stufenplan beschreibt eine Willensbekundung, aber keine völkerrechtliche Verpflichtung. In einem Jahr von 0,38 auf 0,51 Prozent zu kommen, ist in der derzeitigen Situation nicht darstellbar."[7] Die deutsche ODA belief sich 2009 auf 11,982 Mrd. US- Dollar. 2008 waren es noch 13,981 US-Dollar gewesen. Dieser Rückgang um fast genau zwei Mrd. Dollar ist vor allem auf das Ende der haushälterischen Abschreibungen der Schuldenerlasse zurückzuführen und entspricht einem Rückgang des ODA-Anteil am BNE von 0,38 auf 0,35 Prozent.[8] Dennoch verpflichtete sich die Bundesregierung erneut, die ODA-Quote bis 2015 auf 0,7 Prozent zu erhöhen. Bundeskanzlerin Merkel sagte in einer Regierungserklärung: "Das Erreichen der Millenniumsziele für Afrika ist und bleibt uns Verpflichtung. Wir halten am Ziel fest, bis 2015 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Entwicklungspolitik bereitzustellen. Auch das ist eine moralische Aufgabe."[9] Doch um diese Steigerung zu verwirklichen, müsste die deutsche ODA sofort jährlich um circa zwei Mrd. Euro wachsen. Doch der Haushalt des Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) der circa 54 Prozent der deutschen ODA ausmacht, ist 2010 lediglich um 256 Millionen auf 6,07 Milliarden Euro gestiegen.[10] Insgesamt wird die deutsche ODA 2010 etwa 0,4 Prozent des BNE erreichen.[11]

Insbesondere mangelt es der deutschen Entwicklungszusammenarbeit derzeit an Ambition beim Klimaschutz. Vor dem Klimagipfel in Kopenhagen hatte Deutschland 420 Millionen Euro für den internationalen Klimaschutz zugesichert.[12] Anfang März 2010 stellte sich jedoch heraus, dass gerade einmal ein Sechstel davon - 70 Mio. Euro - tatsächlich "frisches Geld" sind.[13]

Ein Aspekt, der Entwicklungspolitik zunehmend bestimmt, ist die militärisch - zivile Zusammenarbeit. Besonders in Afghanistan, wo die Bundeswehr einen Teil der Interventionstruppen stellt, gibt es Bestrebungen deutsche Entwicklungshilfeleistungen stärker mit militärischen Strategien zu verbinden. Die Welthungerhilfe beschreibt das Problem folgendermaßen: "(...) die Vermischung von Militär und Wiederaufbau hat erheblichen Schaden angerichtet. Weil Entwicklungshilfe durch die Wiederaufbauteams in den Provinzen Teil der Militärstrategie geworden ist, greifen oppositionelle Kämpfer auch Entwicklungshelfer an - auch wenn sie politisch neutral und nur dem Gebot der humanitären Hilfe verpflichtet sind. Unsere Forderung lautet strikte Trennung der Aufgaben: Die Bundeswehr kümmert sich um die Sicherheit, die Entwicklungshelfer um die Entwicklung."[14] Diese Forderung gewinnt angesichts des finanziellen Umfangs der Entwicklungshilfeleistungen in dem südasiatischen Land an Gewicht: 2009 betrug der Aufwand für die "Stabilisierung und Entwicklung Afghanistans" insgesamt rund 144 Millionen Euro.[15]  Anlässlich der Londoner Geberkonferenz für Afghanistan Anfang 2010 kündigte Niebel sogar an, den jährlichen Beitrag auf 250 Millionen Euro zu erhöhen: "Dazu werden wir die uns zur Verfügung stehenden Mittel in Höhe von einer Milliarde Euro bis 2013 verwenden", heißt es dazu in einer Pressemitteilung des BMZ.[16] Afghanistan war schon 2009 der größte Empfänger deutscher Entwicklungshilfe.[17] Zum Vergleich: Für Aufgaben des Zivilen Friedensdienstes werden 2009 und 2010 jeweils 30 Mio. Euro zur Verfügung gestellt.[18]
  1. Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes vom 3. März 2010; <www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Presse/pm/2010/03/PD10__074__812,templateId=renderPrint.psml>
  2. IAQ-Report 2009-05, Juli 2009, <www.iaq.uni-due.de/iaq-report/2009/report2009-05.php>
  3. ARD-tagesschau.de vom 12. Juni 2009, <www.tagesschau.de/inland/tafeln106.html>
  4. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), Bundesministerium für Gesundheit (BMG), Bundesfinanzministerium (BMF)
  5. Pressemitteilung des VCD; <www.vcd.org/688.html?&tx_cwtpresscenter_pi1[showUid]=636>
  6. World Wildlife Fund (WWF) 2009: J. Cottrell, A. Görres, F. Prange, K. Schlegelmilch und S. Schmidt: Sind die deutschen Konjunkturpakete nachhaltig? <www.wwf.de/fileadmin/fm-wwf/pdf_neu/Konjunkturpaket_D_V25_12-06-2009.pdf>
  7. Domradio online, 18. Nov.2009; <www.domradio.de/aktuell/artikel_58664.html>
  8. OECD Pressemitteilung vom 14. April 2010, <www.oecd.org/document/11/0,3343,en_2649_34487_44981579_1_1_1_1,00.html>
  9. Regierungserklärung vom 10. Nov. 2009, <www.bundesregierung.de/Content/DE/Regierungserklaerung/2009/2009-11-10-merkel-neue-Regierung.html>
  10.   Pressemitteilung des BMZ vom 19. März 2010; <www.bmz.de/de/presse/pm/2010/maerz/pm_20100319_45.html>
  11. EU Pressemitteilung vom 21. April 2010, <http://ec.europa.eu/development/icenter/files/europa_only/twelve_points_MDG_en.pdf >
  12. Focus online, 11. Dez. 2009; <www.focus.de/politik/weitere-meldungen/klimagipfel-deutschland-zur-zahlung-von-420-millionen-fuer-klimaschutz-bereit_aid_462180.html >
  13. Spiegel Online, 5. März 2010; <www.spiegel.de/wissenschaft/natur/0,1518,681989,00.html>. Vgl. <www.wir-klimaretter.de/nachrichtensep/politik-nachrichten/5463-neuer-haushalt-neues-glueck>
  14. German Agro Action, Zugriff am 12. April 2010; <www.welthungerhilfe.de/afghanistan-sicherheit-entwicklungshelfer.html>
  15. Pressemitteilung des BMZ vom 24. Nov. 2009; <www.bmz.de/de/presse/pm/2009/november/pm_20091124_103.html>
  16. Pressemitteilung des BMZ vom 28. Jan. 2010; <www.bmz.de/de/presse/pm/2010/januar/pm_20100128_15.html>
  17. Die Wirklichkeit der Entwicklungshilfe 2009, 17. Bericht; S. 57, <http://www.tdh.de/content/materialien/download/download_wrapper.php?id=305>
  18. Ebenda, S.55

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen